Verletzlich
Sieh mal!, sagst du, und drehst die Hand dem Licht der Kerze zu. Mein Finger gleitet tastend und fühlend über die kleine Wunde, spürt Kratziges und nimmt Feuchtigkeit mit sich. Diese Gewissheit, jenes Raue wieder zu spüren, wenn du mich berühren wirst ...! Mein tröstender Kuss senkt sich hinab. Nein, blutleer bist du nicht! Ich streichle mit der Zunge diese kleine Stelle, den leicht metallenen Geschmack erkennend. Er dämpft nicht meine leise Zärtlichkeit, ruft dennoch lauernd Ängstliches hervor.Wie verletzlich du bist! Dein Mannsein ändert nichts daran: Zart ist deine Haut. Auch in der Leistengegend, da, wo du aufjuchzt, wenn ich dich nur leicht berühre - so empfindsam ist sie. Und empfänglich für Signale aller Art. Fingerspitzen tippen meine, im Rhythmus deines Pulses, dir den Hals entlang. So zart, so verletzlich! Diese eine schutzlose Stelle, eine ungeschickte Bewegung, ein schneller Schnitt ... und aus.
Eine ungeschützte Stelle, eine geschickte Bewegung, ein hassvoller Schritt ... und ausgeschaltet. Krimis - man fühlt kein wirkliches Erschrecken mehr, hat wohl zu viel davon gesehen. Zu viel stumpft ab. Stumpfes Messer, dumpfer Schmerz. Sie sind mir nicht so nahe, sie gehen mir längst nicht mehr so unter die Haut, wie du.
Und unter deiner Haut pulsiert, zum Greifen nah - wenn etwas nach dir greifen wollte, da, an dieser zarten, feinen Stelle - dein Blut. Vom Außen nur durch hauchdünne Schichten getrennt, pulsiert es fort und fort. Aus haarfeinen Schnitten rinnt es manchmal, wenn du wohl nicht acht gegeben hast am Morgen. Es kann genau so schnell versiegen, wie meine Ängstlichkeit mich vorher lähmt. Die irreale Angst, zu spät zu sein, der Schnitt zu tief und dass wohl nichts mehr helfen kann.
Dennoch liebe ich die kleinen hellen Narben da an deinem Kinn, am Hals, an deinen Händen. Sie machen dich so eigenartig, ich sehe dich mit Fingeraugen - einzigartig, unverwechselbar!
Langsam fährt mein Finger diese neue wunde Rinne nach. Gleitet zart, ganz zart, meine Krallen sind längst eingefahren. Dünnhäutig geworden, verdrängt er Mal für Mal das andere - verborgene - Waffenarsenal: spitze Worte, pfeilschnelle Erwiderungen, wegwischende Gesten.
Erstarrtes Schweigen, hart und kalt und aus Verletztheit selbst verletzend, drang bitter unter unsere Haut. Es hatte sich ins Herz verbissen, Stück für Stück herausgerissen, lungerte herum, machte sich breit, hielt es besetzt. Mal mehr, mal weniger. Es ließ sich nicht vertreiben, wollte, musste bleiben. Es hungerte nach losgelösten Worten, der Losung mit dem Wort: Verzeih!
Es fiel, erst tröpfelnd, stetig dann und sommerregenwarm. Schmerzlich prallte es auf unser abgewandtes Lauschen, doch flüsternd löschte es den Brand der Wunden im Gemüt und unterschrieb auf unserer Haut mit feuchten Spuren das Urteil unserer Freilassung.
Narben blieben und sie liegen tief. Sie schimmern dunkel durch die sichtbar äußeren. Mein Finger fährt darüber hin, spricht ein Gebet und meint, sie zu erleuchten: Macht's gut! Macht das alles wieder gut!
Wir stürzten oft und es tat weh. Wir fielen weicher, wenn auch Klärung zur Erklärung kam. Dann - keine Wunden, keine Narben mehr, nur rote, blaue Flecke. Jeder Fall - ein Absturz an der Schweigemauer, ein Stolpern über die Wurzeln des Lebensbaums. Doch es hängt an ihm auch diese Schaukel - für uns gerade breit genug. Wir haben uns hinaufgeschwungen, hoch und höher, und liegen jetzt im Nest aus überlebten Wortgefechten. Weich gepolstert, hält es warm, mit tiefer fühlendem Verstehen.
Und Wärme heilt. Den Narben folgt nur hin und wieder noch ein blauer Fleck, wenn wir an neue Kanten stoßen.
Zart ist deine Haut, doch keine Grenze. Mein Finger fühlt dich tiefer.
Verletzlich sollst du bleiben, weiterhin, in dir.
© Gud_Rune 06/2012