Szenen am Wegrand des Leids
Runterkommen. Abschalten. Den Kopf frei bekommen. Dinge, die mir vor nicht allzu langer Zeit noch leicht gefallen sind. Doch nun wird es von Tag zu Tag schwerer. Die Nächte geben mir keine Ruhe mehr, die Tage sind angefüllt mit Zeitplanung, Wegzeiten berechnen, Routen ausdenken, wie es am schnellsten geht, ärgern über doch wieder Vergessenes. Stunden, Minuten stehlen für die Zeit nur für mich alleine.Und nun endlich wieder ein paar wenige Stunden für mich. Den Tag, das Geschehen, nochmal nachfühlen, verstehen.
Ein Glas Sekt, als kleine Belohnung gedacht, seelenschmeichelnde Soft-Jazz-Musik im Hintergrund, eine Zigarette dazu. Die Musik lässt mich zu mir kommen. Langsam meine Mitte wiederfinden. Ich schließe meine Augen, atme tief durch und ein sanftes Kribbeln auf meiner Haut lässt mich die Energie fühlen, die langsam in meinen Körper zurückkehrt. Es ist nicht viel, nur so viel, um den nächsten Tag gut zu überstehen. Aber selbst dafür bin ich dankbar. Denn es ist für mich inzwischen mehr als erstaunlich, dass diese Energie immer wieder aufs Neue fließt. Ein phantastisches Erlebnis.
Doch anstatt wundervoller Bilder schöner Landschaften oder meines geliebten Meeres sehe ich immer nur dein leidendes Gesicht. Gequält, geplagt, angstvoll, verwirrt.
Mama.
Meine kleine, schwache, ängstliche Mama, am Ende ihres langen Weges. Der es nun nicht mal vergönnt ist, diesen Weg bewusst und wachen Verstandes zu gehen. Oder ist dies womöglich ein Schutz der Natur? Ein Schutz vor der großen Furcht, was danach kommt?
Meine Augen füllen sich mit Tränen, denn ich fühle ihren Schmerz.
Nach vier Tagen endlich wieder ein wenig auf dem Boden der Realität angekommen in einem schönen Pflegeheim mit wirklich herzlichen und guten Menschen, kam plötzlich wieder der Absturz. Mitten im fröhlichen Gesang und Musizieren der Mitbewohner warst du weg. Kein verständliches Wort kam mehr aus deinem Munde. Angst und Panik waren in deinem Blick zu lesen. Ich sah es sofort, als ich ankam und mich neben dich setzte. Ich fühlte, dass deine Aura nicht gut war. Fühlte deine Furcht. Sah deine Qual in deinem Gesicht. Warum sah es dieser Musiktherapeut nicht, der nur einen Stuhl weiter saß, mit direktem Blick auf dich?
Ja, der Musiktherapeut. Ein typischer Musiktherapeut, wie man ihn sich vorstellt. Ein sehr netter, lieber Mann. Sanft, voller Verständnis für all die alten Menschen am Ende ihres Weges, mit Engagement und wirklich guten Ideen, ihnen diesen Weg etwas leichter und fröhlicher zu gestalten. Ich bewundere diese Menschen, die sich so herzlich aufopfern für ihnen doch fremde Personen. Mit der Zeit lernt man zu unterscheiden, ja, zu erkennen, ob es jemand nur des Geldes wegen macht. Als Job, mehr nicht. Oder ob es eine Art Passion ist. Und diese Engel, die in dieser Aufgabe aufgehen und sich wohlfühlen, strahlen eine unendliche Ruhe und Zufriedenheit aus. Trotz all dem Leid, das sie um sich haben. Für mich sind das Engel.
Mama... ich vermisse dich.
Wir hatten in dem Jahr deiner Chemo-Therapie so viele offene, intensive und nahe Gespräche. Wir kamen uns so nah, wie in den ganzen 55 Jahren nicht, die ich nun gemeinsam mit dir auf dieser Welt wandle. Es war ein schmerzhaftes, aber auch ein sehr wertvolles Jahr für mich. Ich erfuhr nicht nur viel über dich, sondern noch viel mehr über mich selbst. Entdeckte, warum so manches in meinem Wesen so ist und nicht anders. Ich danke dir unendlich für diese Zeit. Schade, dass wir uns das nicht schon früher gegönnt haben, wir hatten so viele Jahre Zeit dafür. Wie dumm wir Menschen doch sein können in unserem falschen Egoismus.
Und nun verlässt du mich. Nach und nach... erst mal im Kopf. Du lebst immer öfter in deiner Phantasiewelt, in der du mich sogar manchmal hasst. Deinem Blick nach abgrundtief hasst. Oh, das tut weh. Aber auch das muss ich verarbeiten. Schmerzhaft. Und mir dabei immer wieder sagen, das bist nicht du, das ist die Krankheit.
Dann wieder lehnst du dich an mich und zeigst mir, dass ich dein einziger Halt bin. Dass ich dich nicht im Stich lassen darf. Dass du mir vorbehaltlos vertraust bis in den unaufhaltsamen Tod.
Mama... ich vermisse dich.
Als gestern die Sanitäter meine Mama im Heim abholten und sie in den Krankenwagen brachten, wurde noch die Versichertenkarte vermisst. Ich blieb zurück, die Sanis meinten, ich bräuchte jetzt auch nicht gleich ins Krankenhaus zu kommen, ich würde angerufen nach den Untersuchungen, ob Schlaganfall oder nicht. "Naja," dachte ich bei mir, "das werde ich ganz sicher nicht tun, ich lasse meine Mama nicht alleine in ihrer Furcht."
Der Musiktherapeut, der liebe nette pummelige Engel, nahm mich mit ins Stationszimmer und sagte, "da bin ich jetzt froh, dass sie noch bleiben müssen wegen der Karte. Ich wollte ihnen nämlich noch sagen, dass sie nicht auf die Sanis hören und doch gleich ins Krankenhaus fahren sollten. Sie können ihre Mutter jetzt nicht alleine lassen". Ich lächelte und sagte: "Das hatte ich so vor, ich habe sie nie alleine gelassen seit ihrer Krankheit." Er strahlte mich an.
Dann ging die Suche nach der KV-Karte los. Er wusste noch, welchen Aufkleber er angebracht hatte an dem Behältnis, in dem alle Karten verwahrt werden. (Ich sollte dazu erwähnen, dass das Heim ganz neu ist, erst einen Tag vor Aufnahme meiner Mutter eröffnet hat.) Er fand sie nicht. Alle Schränke durchgesehen, aber nichts zu finden. Dann suchten wir gemeinsam nochmal und siehe da: Im vierten Schrank entdeckte ich ein Kästchen und darin waren sie. Der knuffige Engel strahlte und meinte: "Was für ein toller Zufall, dass sie noch dableiben mussten!" Ich erwiderte, dass es keine Zufälle gibt, meiner Meinung nach, und er stimmte mir strahlend zu. "Alles hat seinen Sinn", sagte er. Wir schauten uns an und verstanden uns. Es waren keine weiteren Worte nötig. Und ich erkannte, ich habe in dieser leidvollen Zeit mal wieder einen guten Menschen kennengelernt.
Ich versprach noch, später Bescheid zu geben, was die Untersuchung ergab und machte mich auf den Weg. Zitternd. Kaputt. Kraftlos. Aber um eine wertvolle Begegnung reicher.
Was für eine Zeit... was für ein Leben. Grausam und bereichernd zugleich.
In der Notaufnahme: kein Schlaganfall. Gut. Weitere Untersuchungen. Ok, das Leid geht weiter für sie.
Die Nacht war schlaflos, Bilder ihres Leidens, Mit-Leiden, Und die Gedanken, dass ich sie dort alleine gelassen habe. Schmerz des Verlustes. Des Verlustes der Mutter und des Verlustes meines Lebens. Wie lange geht das noch so weiter, dieses ewige Auf und Ab? Ich möchte ein Ende dieses ewigen Leidens, möchte mein eigenes Leben wiederhaben. Jedoch bedeutet dies, dass mich meine geliebte Mama dann für immer verlassen hat. Zumindest körperlich. Schmerz, mit dem ich mich auseinandersetzen muss. Aber natürlich nicht möchte.
Die Arbeit hat gut getan. Wenn auch übermüdet, aber ein Stück Normalität. Ablenkung.
Mit Herzklopfen und Angst, was mich erwartet, ins Krankenhaus, auf die Station. Der erste Schock: Boah, was ist das denn? Das Krankenhaus scheint noch aus der Vorkriegszeit zu stammen. Nicht das, was ich gewohnt war. Aber ich wählte dieses Krankenhaus, da es dort die beste Versorgung bei Schlaganfall gibt. "Stroke unit" nennt sich diese Einrichtung, die leider nicht jedes Krankenhaus hat. Und wenn man das nicht weiß und keine aufmerksamen Sanitäter hat, hat man eben Pech gehabt. Wie mein Papa vor langer Zeit. Ich habe daraus gelernt. Nur... wer macht das mal für mich, wenn ich in diese Situation gerate? Wieder falle ich in Gedanken...
Auch das CT ergab, es war kein Schlaganfall. Jedoch so manches im Argen im Körper mit dem Krebs und sehr verwirrt durch alles, was die letzten Wochen geschah. Ich soll eventuell entscheiden über einen Blabla-irgendwas-Ausgang für die Blase - ich kann das nicht. Scheiße, in der Theorie und im Film ist das immer so einfach. Entscheidungen sind mir noch nie leicht gefallen, verdammt nochmal!
Und das Kind in mir meldet sich ganz leise zu Wort. Über die Mama entscheiden. Entscheiden, wie sie leben soll. Entscheiden, was sie ertragen soll und was nicht. Das ist doch eine verdrehte Welt!
Machtlos. Furcht. Verantwortung nicht übernehmen wollen, aber müssen. Alleine. Und eine Kraft, die immer wieder irgendwo herkommt. Scheinbar stehen mir doch ein paar Engel zur Seite.
Du lagst in diesem alten, klassischen Krankenhauszimmer so klein und verlassen in diesem großen Bett. Wolltest, dass ich die Türe abschließe, damit "sie" nicht reinkommen können. Erzähltest mir, dass sie alle verkleidet wären und ein Schauspiel spielten. Und dann lief da eine Katze durchs Zimmer und jetzt ein Hund. Und Dr. Göbels (oder etwa Goebbels?) wäre auch hier, Du hättest ihn gesehen. Du zogst an Deiner Windel, bis fast alles, was darin war, auf dem Leintuch lag, weil es Dich störte.
Nach kürzester Zeit war das Zimmer, das ganze Haus, voll mit Phantasiewesen, die sich um uns versammelten.
Mama... ich vermisse Dich!
Ich kämpfte mit den Tränen und der Wut, die dich schütteln möchte und schreien will, "komm endlich wieder zu dir! Reiß dich mal zusammen!" Wo bist du...
Der Arzt fragte dich nach dem Tag, dem Monat, dem Jahr. Du wusstest nichts, das Jahr nanntest du mit 1900-irgendwas, du würdest es nicht genau wissen. Nun war mir auch klar, woher dieser Dr. Göbels plötzlich kam.
Ich frage mich immer wieder, warum die Demenz alte Menschen so sehr in die Vergangenheit zurückwirft. Ich würde das so gerne verstehen.
Und ich bekomme immer mehr Angst, selbst auch einmal so zu werden.
"Es war zu viel die letzten Tage, Wochen. Das wird wieder besser, es gibt auch gute Medikamente dafür", sagte der Arzt und verabschiedete sich. Er war nett und freundlich, dafür ist man ja heute schon dankbar. Ich habe inzwischen manche tolle, aber auch wirklich widerliche Ärzte kennengelernt.
Medikamente dafür. Was ist gut, was ist richtig? Was ist der natürliche Lauf der Dinge? Kann ich das wirklich entscheiden? Für sie muss es angenehm sein, das ist das Wichtigste.
Eine andere alte Frau wurde im Bett ins Zimmer geschoben. Ihre Enkelin kam gleich danach herein, so ca. Ende 20 Jahre alt. Wir unterhielten uns ein wenig; mit der Zeit macht man das schon automatisch, man fühlt sich einfach gleich verbunden im Leid um die Angehörigen. Der andere versteht, da er es kennt.
Es werden immer mehr Menschen, die es kennen und verstehen. Wo waren die vorher? Habe ich sie nur nicht wahrgenommen?
Sogar der Security-Mann vor dem Pflegeheim ist mir inzwischen vertraut, wir haben immer eine kleine Unterhaltung, wenn ich komme und gehe. Und gestern, als meine Mama weggebracht wurde, sagte er, er kenne das, habe es auch schon mitgemacht und wünsche mir viel Kraft.
Fremde Menschen werden plötzlich zu Vertrauten. Zu Verbündeten.
Nach einiger Zeit brachte die Enkelin ihre Oma zur Toilette und ging kurz aus dem Zimmer, um etwas zu holen. Als sie wiederkam, war eine Ärztin da und die Oma hatte in der Toilette einen Kreislaufzusammenbruch. Die Enkelin brach in Tränen aus und setzte sich weinend auf den Stuhl, der in direkter Nähe zu mir stand. "Ich kann nicht mehr, ich weiß nicht mehr, wie ich das noch schaffen soll. So kenne ich sie gar nicht." Ich legte meine Hand auf ihre Schulter, streichelte ihr über den Rücken und sprach ihr Trost und Mut zu. Auch mir standen die Tränen in den Augen, da ich so sehr mitfühlte. Oh, ich wusste so genau um ihren Schmerz. Und es tat mir gut, dass es ihr geholfen hat, dass ich da war und sie verstand.
Wir verabschiedeten uns später mit den Worten: "Dann werden wir uns wohl morgen wiedersehen" - und einem verstehenden und dankbaren Lächeln.
Wir sind nicht alleine.
Auf dem Heimweg dachte ich darüber nach, wie schön - und genau genommen ja auch wichtig - es war, dass ich genau zu diesem Zeitpunkt "zufällig" in diesem Zimmer war und dieser Frau ein wenig Halt geben konnte. Und sie mir, indem ich sah, dass auch ich nicht alleine bin mit diesem Leid und sogar noch anderen Trost und Kraft geben kann. Zufall?
Dies sind diese kleinen Szenen am Wegrand des Leids, die man nicht übersehen sollte. Und die das Herz erwärmen.