Sabinschn
Endlich rasselt die Jalousie. Endlich, denn ich bin schon lange wach. Ah, heute macht sie gleich das Radio an. Und laut! Wie schön. Und sie lacht mich an, weil ich mich freue und es zeige, so gut ich kann, mit zittern. Dann ist sie wieder weg und ich weiß, ich bekomme noch ein wenig Zeit, um in Ruhe aufzutauchen. Es ist schon hell draußen, das Licht fällt ins Zimmer, anders als an den Tagen zuvor. Es muss dann also Samstag sein. Oder ein Feiertag. Jedenfalls wird es heute alles entspannter zugehen, in den Zeiten, wo geschafft wird. Dazwischen, wie jeden Tag, werde ich nur da sein, oft einfach nur rumstehen, stehengelassen am Fenster oder vor dem Fernseher oder einfach irgendwo. Abgestellt oder bewusst hingestellt, damit ich was erlebe.
Da ist sie wieder. Ich mag sie. Bei ihr ist vieles achtsamer, nicht so ruckartig. Gleich wird es wieder so kühl werden im Bauch. Schön, dass sie mich schnell wieder zudeckt und das Kopfteil höher stellt. Das ändert zwar nichts an den Rückenschmerzen, aber so kann ich mehr sehen. Wie Suse sich zum Beispiel wieder aufregt, weil es ihr nicht schnell genug geht. Typisch Autistin eben. Früher hätte ich gerne getauscht mit ihr. Weil sie selber fahren kann, wohin sie will. Im Rahmen der Möglichkeiten.
Diese elende Anzieherei. Aber waschen ist schön, auch wenn ich schnell friere. Sie weiß, wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich die Arme heben. Sie schafft es dennoch, mir das Deo zwischenzuschieben. Windelwechsel, was soll's. Es geht eben nicht ohne. Radio Energy - yeah! I'm your anti-hero.
Oft bin ich die Letzte, die zum Frühstück kommt. Und ich bring mein Essen mit, am Galgen hängend über mir. Wie praktisch. Manche bedauern, dass ich nichts mehr zwischen die Zähne kriege. Ich nicht! Ich weiß doch noch, wie alles schmeckt. Ich hab's doch nicht vergessen!
Heute sind wir eine kleine Runde, manche sind nach Hause gegangen. Haha, gegangen. Geschoben worden. Ob sie sich wohl abgeschoben fühlen, hierher? Als Familienhandycap. Ihre andere Familie, oft die eigentliche, ist hier. So wie meine auch. Meine Eltern kommen nur noch selten. Sie können schlecht ertragen, wie es mir geht, heißt es, mit diesem Immer-schlechter-gehen. Dabei geht es mir gut hier. Besser.
Manchmal mache ich Listen auf, aus Langeweile: was ich kann, was ich nicht kann. Sehen kann ich, und hören, riechen, fühlen, frieren, schwitzen. Denken und nachdenken. Mich freuen und wütend sein. Und weinen. Husten und nach Luft ringen. Lachen kann ich, auch wenn es sich für sie so anhört, als hätte ich Schmerzen. Das Missverstehen schmerzt mich am meisten.
Ich kann mich nicht bewegen. Nicht die Arme, nicht die Beine, nicht den Kopf, nicht die Zunge. Aber ich kann zittern, immerhin! Und mit den Augen rollen und so viel sagen. Manchmal hört man mir auch zu. Wenn genügend Zeit ist.
Sonnenlicht im Zimmer, von Spazierengehen wird gesprochen. Ich will mit! Mal abzählen. Vier Betreuer - vier Rollifahrer, drei Läufer. Könnte klappen. Nur nicht husten, gelassen bleiben, damit ich gesund wirke und mit darf. Es nervt, dass sie immer meinen, ich wäre zu empfindlich, könnte mir was wegholen. Ich hab doch schon alles weg, was zu holen wäre. Und jede einzelne Erkältung war es wert, vorher draußen gewesen zu sein. Den Wind in den Haaren gespürt zu haben, die Sonne direkt im Gesicht, nicht durch die Scheibe. Die ewig kalten Hände und Füße nehme ich doch so gern in Kauf.
Mittagsruhe auf dem Wasserbett, welch seltener Wochenendluxus. Wie Schweben ist das, kein Drücken mehr, mal keine Schmerzen. Ich will wach bleiben, es auskosten, es erinnert mich an früher, als ich schwamm im See und tauchte und mit meinem Bruder spielte. Wunderbar! Und grausam das Aufwachen, wenn ich wieder in den Rolli gesetzt werde. Ruck zuck. Macht doch langsamer, ich hab doch alle Zeit der Welt.
Manchmal vergessen sie, dass ich alles höre, alles verstehe. Dann reden sie miteinander, dass sie mir wünschen, ich hätte es bald hinter mir. Besserung ist doch ausgeschlossen. Besser geht's nicht. Aber es geht noch. Ich war schon mal ein Weilchen drüben, in jener Nacht, als der Notarzt kam. Ich weiß, wo ich hinkommen werde und dass dort alles gut ist. Deshalb kann ich auch noch bleiben. Sie haben mehr Angst davor als ich. Verrückt!
Wochenendroutine mit fernsehgucken. Ich liebe alte Filme. Nur kann ich sie oft nicht zu Ende anschauen, weil eine andere Routine Wichtigkeit anmeldet. Waschen, umziehen, wieder einmal. Ich schalte ab. Dann Abendkreis. Vorlesen von Kindergeschichten, weil viele nicht mehr viel mitkriegen. Oder singen, und ich singe mit, innerlich. Ich kenne alle Lieder, jeden Text, hab sie schon tausendmal gehört in all den Jahren hier.
Weil ich beim Abendessen einschlafe, denken sie, ich wäre müde, aber ich erhol mich nur, um Kraft zu haben für das Aufbleibendürfen, das manchmal folgt. Heute nicht, ich schau wohl doch zu müde aus. Und wenn ich dann unwillig zittere, aus Enttäuschung, werde ich um so schneller ins Bett gebracht. Sie meinen es gut. Das ist nicht immer gut für mich.
Sabinschn nennen sie mich liebevoll, als wäre ich ein Kind, das erst noch alles lernen muss. Muss ich? Ich konnte doch schon alles. Und ich bin älter als die meisten hier. Ich will auch mal nichts mehr können dürfen.
Letztlich ist es mir egal, wo ich stehe, liege, und ich will längst nicht mehr überall sein. Aber dabei sein. Mittendrin! Manche spüren das, andere nicht. Manche schieben mich mit an den Tisch, gut, andere ein Stück weg. Auch gut. Dann zwinkere ich mit Oli und wir spielen das Augenrollenspiel. Rollenspiele hab ich immer schon gemocht. Oder singe mich innerlich in Ekstase. Meist holen sie mich schnell wieder runter, mit Tropfen, die mich platt machen. Immer diese Angst von ihnen, dass es mir nicht gut geht, wenn ich zittere.
Zittern ist meine Lebendigkeit, die will ich mir nicht nehmen lassen! Sie kommt von ganz tief drinnen, durchbricht die Starre meines Körpers und sie gehört zu mir. Auch wenn es für sie anders aussieht.
Manche sehen genauer hin und lachen dann mit mir.
Dann will ich nirgendwo anders sein.
Dann fühl ich mich erkannt.
Dann bin ich ganz bei mir und mittendrin.
© Gud_Rune 06/2012