Der kindliche Kaiser
Hastig schritt er über den beinahe leeren Platz vor dem Hauptquartier der fünften Legion der kaiserlichen Armee von Estrylla. Ashan Mironia, dritter Magus des Kaisers und seit einer Stunde Berater des Heerführers, warf einen Blick über die Schulter zurück auf die Stadt, die sich hinter ihm auf einem sanften Hügel erhob. Im Licht der untergehenden Sonne konnte er das goldene Dach des Tempels des Wissens erkennen. Dort war sein Heim gewesen. Viele Jahre lang hatte er den Tempel nicht verlassen und nun war er berufen, in den Kampf zu ziehen, die Ungeheuer der südlichen Lande zu bekämpfen und er fürchtete sich. Dennoch richtete er seinen Blick nun wieder nach vorne auf das mächtige steinerne Gebäude, dessen breites Portal ihn nun empfing. Der ehrwürdige kindliche Kaiser Tihan I. hatte ihn zu dieser Aufgabe berufen, nun musste er sie erfüllen, er der sich nie zum Kriegerhandwerk berufen gefühlt hatte, war auf kaiserliche Order gezwungen, in den Kampf ziehen und zwar noch in dieser Nacht. Schwer war es ihm gefallen die Maske des Gleichmuts zu bewahren, als ihn der Kaiser zu sich gerufen und ihm den Auftrag gegeben hatte. Der Wunsch des kindlichen Kaisers wurde immer mit der größten Freude und Hingabe befolgt, es war eine Ehre, dem Kaiser zu dienen. Doch insgeheim hielt ihn Ahsan für einen verzogenen Knaben, der nur selten auf seine Ratgeber hörte, stattdessen schaffte es der Knabe, seinen Willen durchzusetzen. Das erstaunte den Magier immerzu. Auch meinte er manchmal, eine mächtige Präsenz zu fühlen, wenn er den Kaiser sah, was er allerdings als Einbildung abtat, denn niemand sonst, nicht einmal der erste Magus des Landes erwähnte jemals etwas. Das Leben des Kaisers war unantastbar, sakrosankt. Jeder, der dem Willen des Kaisers entgegen handelte oder dessen Leben bedrohte, war des Todes. Es war eine einfache Methode zu herrschen. Wohlstand, Unwissen und Angst, das war das Wasserrad, welches das Kaiserreich mächtig gemacht hatte und der kindliche Kaiser hatte vor, es noch weiter auszudehnen. Jetzt wohl auch gen Süden hin zu den vulkanischen Gefilden, wo sich der Eingang zur Unterwelt befand. Der Magier überlegte, ob es der Kaiser darauf abgesehen hatte. Wollte er das Tor schließen oder es öffnen? War es schlichte Neugier, die den Kaiser zwang, das zu tun oder einfach nur Gier. Der hagere Mann zwang seine Gedanken weg von diesen fruchtlosen Überlegungen und wandte sich erneut der Gegenwart zu, dem Steingebäude vor sich.Entschlossen wirkte der Schritt des eher schmächtigen Mannes mit dem langen weißen Haar, welches durch ein einfaches silbernes Band aus der Stirn gehalten wurde. Ohne sich noch einmal umzusehen, betrat er das Gebäude und wagte sich sogleich zum Kommandanten vor, der ihn bereits in voller Rüstung erwartete, das Visier des Helmes aber freundlicherweise geöffnet hatte. Ashan hasste Rüstungen, aber sie waren für die Soldaten notwendiger Schutz gegen eine Vielzahl von Waffen, machte sie andererseits aber auch unbeweglich und setzte sie der Gefahr des Ertrinkens aus, wenn sie eine Furt durchquerten. „Ihr habt die Befehle, Magus?“, begann der Mann ohne Umschweife zu reden, was Ashan nun wiederum nervte. Natürlich hatte er die Order erhalten, sonst wäre er kaum hier. Außerdem, wie kam ein Soldat dazu, so mit ihm zu reden? Etwas von seinem Unmut musste in seinem Gesicht zu erkennen gewesen sein, denn der ältere Mann grinste plötzlich. „Schön, Ihr seid also keiner dieser ‚mir ist alles gleichgültig’-Magier, freut mich zu sehen. Wir werden in einer Stunde aufbrechen. Ich habe die höchste Ehre, Euch begleiten zu dürfen.“ Nun war es an Ashan erstaunt zu sein, dann lachte er lauthals heraus. Der Kommandant gefiel ihm, er ließ sich nicht einschüchtern. „Schön, wenn Ihr es als Ehre anseht, dann freut es mich, Centurio Nysil.“ Der Centurio grinste ein wenig mehr und wies dann auf einen gedeckten Tisch, um den mehrere Stühle standen. „Setzt Euch. Wir haben noch ein wenig Zeit, bevor wir aufbrechen oder müsst Ihr noch etwas erledigen vorher? Sonst können wir jetzt noch einmal speisen wie zivilisierte Leute.“ Ashan nickte, sein Gesicht zeigte allerdings keine Regung. Er hatte sich wieder in der Gewalt. Langsam ging er auf den Tisch zu und setzte sich dann auf einen der Stühle. „Bald werden wir auf diesen Luxus verzichten müssen. Weiß Shaim, was den Kaiser dazu treibt, uns in die vulkanische Gefilde zu schicken“, fuhr Nysil leutselig fort. Er nahm nun den Helm ab und entblößte einen wohlgeformten von einer weißen Kappe bedeckten Kopf. Eine Weile überlegte Ashan, was er darauf erwidern sollte, ob es überhaupt klug war, darauf etwas zu sagen. Er wusste, dass das Militär nicht sonderlich gut auf den göttlichen Kindkaiser zu sprechen war, wofür auch die Anrufung Shaims, des Gottes des Krieges, sprach. Der Magier schwieg solange, bis es Nysil unbehaglich wurde. Er schaute zur Tür, so als erwarte er einen weiteren Gast, wofür auch das dritte Gedeck sprach, weswegen Ashan noch wartete und sich nicht bediente, er goss sich lediglich etwas Wein ein und schwieg. Er wusste, dass zu viel Gerede schon so manchem den Kopf gekostet hatte und seiner war ihm noch heilig. Noch wollte er sein Leben nicht sinnlos aufs Spiel setzen. Mit einer fast gezierten Bewegung schob er die Ärmel seiner Robe hoch, was einen Drachenkopf am linken Handgelenk preisgab, der seine spitzen Zähne ins Fleisch des Magiers zu bohren schien. In dem Augenblick, als Nysil noch auf die Tätowierung starrte, öffnete sich die Tür und eine Frau mittleren Alters betrat das Zimmer. Für sie musste wohl das dritte Gedeck sein, denn sie marschierte geradewegs auf den Tisch zu. „Meine Herren, ich wünsche Euch einen schönen Abend“, sagte sie, ihre Stimme klang nach Stahl, ihre ganze Haltung war die eines Kriegers, was Ashan veranlasste, die Augen zu schmalen Schlitzen zu ziehen. „Guten Abend, Kylana. Du hast ein neues Betätigungsfeld gefunden, wie ich sehe“, sagte der Magier, nachdem er sich von seiner Verblüffung erholt hatte. Nysil hatte ihn amüsiert beobachtet, sagte allerdings nichts, er neigte nur zur Begrüßung leicht den Kopf und deutete dann auf den freien Stuhl. Kylana lächelte und setzte sich mit unnachahmlicher Grazie auf den dargebotenen Platz. Sie war eine sogenannte weiße Hexe, die nicht viel von weiß hielt. „Na, auch mal Lust auf ein bisschen Dämonenfleisch bekommen“, fragte sie unumwunden, unhöflich und direkt während sie sich Wein eingoss. „Sieht ganz danach aus, Hexe“, antwortete Ashan ebenso eisig. Das konnte heiter werden, überlegte er. Kylana und ihn verbanden einige gemeinsame Jahre, etliche Nächte der Lust und eine nunmehrige eiskalte Freundschaft, die sich kaum verbergen ließ und den Centurio zu einem noch breiteren Grinsen veranlasste. Diese beiden, die Hexe und der Magier schienen so gar nicht zusammen zu passen. Während der Magier in einer hellblauen mit weißem Pelz verbrämten Robe erschienen war, war Kylana in schwarzes und sehr figurbetontes Leder gekleidet, das jeden einen zweiten Blick auf die Dame werfen ließ. Auch ihr Haar war weiß wie das Ashans und wurde ebenso von einem dünnen silbernen Reif über der Stirn gehalten. Doch Ashan wirkte keinesfalls feminin, auch wenn so manch flüchtiger Betrachter ihn so einschätzen mochte, er war ein mächtiger Magier, vielleicht nicht der mächtigste im Kaiserreich, aber immerhin war er der dritte Magus im Lande und dazu musste man schon gehöriges Können mitbringen. Kylana war bezeichnenderweise die Erste Hexe im Land, die Anführerin der Damen, welche die dunklen Künste beherrschten, auch wenn sie sich weiße Hexe nannte.
Ungeniert bediente sich die Dame nun von dem Wein und den Speisen, dabei musterte sie Nysil anerkennend. Sie wusste, wann sie einen fähigen Mann vor sich hatte. „Also werden wir wohl in den Süden ziehen und das Unheil aufschrecken, wenn ich das richtig verstanden habe. Ich halte es zwar für unklug, die Bestien aufzuscheuchen, wenn sie schlafen, aber vielleicht haben wir ja Glück.“ Sie redete dahin als würde es sich um einen kleinen Festtagsausflug zum Geburtstag des Kaisers handeln, doch innerlich war sie wohl genauso furchtsam wie Ashan, der nun die Augenbrauen ein wenig anhob. „Schön, dass wir einer Ansicht sind, Kylana“, sagte er wobei er sich selbst mit einem Stück Brot bediente, welches er in kleine Stücke zu brechen begann, um diese dann in etwas Kramöl zu tunken und zu essen. Dazu trank er von dem leichten Landwein. Kylana tat es ihm gleich, nahm allerdings auch von dem kalten Braten. Nur Nysil bediente sich von den kalorienreicheren Speisen.
„Dann weiß ich wenigstens, dass wir hier alle einer Meinung sind. Nicht einmal zehn Garnisonen würde ich ausschicken, um diese Monster des Südens aufzuschrecken“, murmelte der Centurio zwischen zwei Bissen. „Aber der Kaiser hat es so befohlen, also werden wir uns auf den Weg machen und siegen!“ Wem er mit diesem Ausruf Mut machen wollte, wusste er selbst nicht so genau, auf jeden Fall brachte es der Hexe und dem Magier ein Lächeln ins Gesicht, wenngleich es auch grimmig war im Falle der Hexe und herablassend im Fall des Magiers.
Niemand bekam eine Gelegenheit zu einer Antwort, denn von draußen ertönte ein lauter Gong. Nysil erhob sich, nahm seinen Helm und die gepanzerten Handschuhe an sich und ging voraus. „Es ist Zeit“, sagte er an der Tür und hielt sie seinen beiden Begleitern auf. Die Frau ging nun grinsend voraus, Ashan folgte ihr etwas langsamer und Nysil schloss sorgfältig die Tür hinter sich. Er hatte das Gefühl, dieses Gebäude nie wieder zu betreten. Endgültig war das richtige Wort, ebenso erging es Ashan, nur Kylana schien guter Dinge zu sein. „Hast du deinen Vogel noch, mein Lieber?“, fragte sie als sei bei den stämmigen Reittieren angekommen waren, die bereits gesattelt auf sie warteten. Neben jedem Tier, stand bereits ein Diener, um ihnen beim Besteigen behilflich zu sein. Kylana schlug die Hilfe aus und schwang sich äußerst elegant in den Sattel, Ashan schlug den Umhang ein Stück zurück und ließ sich dann würdevoll in den Sattel helfen, nur Nysil brauchte, behindert durch die Rüstung, ein wenig länger. Als sie so weit waren, gab der Centurio das Zeichen. Sein Standartenträger nickte und der Zug bestehend aus, Ashan klappte beinahe die Kinnlade hinunter, aus nicht mehr als ihnen drei, setzte sich in Bewegung. „Ein Kommando, um alsbald unseren Obersten Richter, kennen zu lernen“, murmelte die Hexe. „Der Kindkaiser will uns loswerden, Ashan.“ Darauf antwortete der hagere und kleine Magier nichts. Er warf seiner ehemaligen Geliebten nur einen sonderbaren Blick zu, der eine Warnung und eine Herausforderung gleichermaßen sein konnte. Das Lächeln, das ihn nun traf, war bitter und süß zugleich, so wie ihre Beziehung gewesen war.
Drei Tage reisen sie gen Süden, die meiste Zeit in Schweigen gehüllt, begleitet von der Gewissheit des nahen Todes, dennoch kehrten sie nicht um oder änderten die Richtung. Ashan wusste, dass sie überwacht wurden, denn der Adler, den er während des Tages am Himmel kreisen sah, begleitete sie. Einmal hatte er versucht, sich mit ihm in Verbindung zu setzen und da hatte er den Spion erkannt und die drei Kämpfer hatten sich entschlossen, den Weg beizubehalten.
Endlich, es war der vierte Tag nach ihrem Aufbruch, erreichten sie das Kastell von Woron’Yalla und fanden es in hellem Aufruhr.
Der Marschall des Kastells war bei einem plötzlichen Angriff eines übermächtigen Dämonenheeres aus dem Land der Vulkane, gefallen, ebenso war der Magier nicht mehr aus dem Gemetzel zurückgekommen. Trauer und Furcht in der umliegenden Bevölkerung waren groß, denn auch eine Vielzahl der Soldaten des Kaisers war auf den Feldern des Blutes geblieben. Niemand wusste, was aus den Leichen geworden war, denn ein dichter Nebel war, laut den Berichten von den wenigen überlebenden Augenzeugen, aufgezogen und hatte das Schlachtfeld bedeckt. Hernach hatten Augen aus dem Grau gestarrt. Finster blickende gelbe Augen, die alles zu verschlingen schienen, was in ihr Blickfeld geriet, so hatten die wenigen Überlebenden Fersengeld gegeben. Viele von ihnen hatten ihre Angehörigen gepackt und waren weit in den Norden geflohen. Nichts, so schien es, konnte sie hier noch halten, wo die Dämonen ihr Unwesen trieben.
Als Ashan diese Nachrichten hörte, umwölkte sich seine Stirn. Nichts, aber auch gar nichts hatte auf einen Angriff hingedeutet, oder dass die Dämonen eine derartige Macht aufstellen würden oder vielmehr, dies könnten. Ein Schauder erfasste ihn und er schaute Kylana kurz von der Seite her an. Auch sie wirkte noch bleicher als sonst. „Weißt du, was das für uns bedeutet?“, flüsterte sie, stieg von ihrem Reittier und übergab es der Obhut eines der letzten anwesenden Soldaten. Ashan und Nysil taten es ihr gleich und schauten sich hernach in dem wie leergefegt wirkenden Innenhof, um. Es war gespenstisch still, abgesehen vom Klappern der Hufe auf den Steinen und dem gelegentlichen Schnauben er verängstigten Tiere. „Ja, ja, ja …“, flüsterte Ashan und rieb sich die Stirn. Gerade war es ihm wieder passiert. Er sah mit den Augen eines Raben, der auf dem Blutfeld nach Nahrung suchte. Was er erblickte, war erschreckend. Nichts als Blut und leere Hüllen waren zu sehen, ausgesaugte, verstümmelte Körper. Entnommen war ihnen jedwede Menschlichkeit, alles, das sie als Angehörige der menschlichen Rasse ausgewiesen hätte, war ihnen gestohlen worden. „Bei allen Göttern! Wer nährt sich davon? Wessen Substanz wird durch diesen Schrecken gestärkt?“, murmelte er als er wieder in seinen Körper tauchte, taumelte und schwer gegen Kyana fiel. „Du hast es schon wieder gemacht. Das solltest du nicht, wenn du stehst“, flüsterte sie, die ahnte, dass er seinen Geist auf die Reise geschickt hatte. Das war etwas, das ihr verwehrt war. „Dann bringe mich wohin, wo ich mich hinsetzen oder legen kann. Ich muss weiter hinausgehen.“ Der Centurio hatte den beiden nur noch fassungslos zugehört. Über die Nachrichten war er erschüttert und er selbst, Held zahlreicher Schlachten, wäre am liebsten umgekehrt. Gegen so einen Feind, der aus dem Nichts auftauchte und in Leere getränkt zu sein schien, konnte er nichts ausrichten. Leise fluchend stapfte er die Treppe hoch. „Da ich nun hier der ranghöchste Offizier bin, obliegt die Entscheidung, was mit dem Kastell geschieht, mir“, donnerte er los. Dann winkte er einem der umstehenden einfachen Soldaten und befahl ihm, Speisen und Getränke in den kleinen Saal zu bringen. Es zahlte sich aus, dass die Kastelle alle gleich aufgebaut waren, so musste er nicht lange suchen. „Schürt auch das Feuer. Heute Abend ziehen wir uns alle ins Kastell zurück. Die Tore werden verriegelt und bewacht.“ Sofort eilte der junge Soldat, der eher ein Knabe zu sein schien, davon, um die Aufträge auszuführen.
Kylana unterdessen schob und zog Ashan ins Gebäude und drückte ihn schließlich auf eine gepolsterte Bank. „Sobald du gegessen hast, wirst du wieder deinen Geist hinausschicken, aber keine Minute früher. Ich weiß, wie ich dich binden kann“, sagte sie mit einem Ernst in der Stimme, der keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit aufkommen ließ. Also gab der Magier Schulter zuckend nach und fügte sich in sein Schicksal. Eine Stunde auf oder ab würde die Lage weder besser noch schlechter machen. Also ließ sich der Magier mit Speise und Trank versorgen und dachte beim Essen über die Situation nach. Kyana schien es ähnlich zu halten, ebenso Nysil, denn beide schwiegen und waren tief in ihre eigenen trüben Gedanken versunken. „Centurio?“, unterbrach Ashan das Schweigen, nachdem er das letzte Stück Fladenbrot mit einem Schluck Weißwein aus seinem Mund gespült hatte. „Wie viele Männer, denkst du, sind noch hier? Hast du darüber irgendwelche Auskünfte erhalten?“ Der Angesprochene hob über den saloppen Ton des Magiers den Kopf und starrte ihn eisig an. Es war nicht einfach für ihn, im Gesicht dieses hageren Menschen zu lesen, der ständig, bis auf das eine Mal, als er ihn kennen gelernt hatte, gleichmütig erschien. Nysil wischte sich mit der Serviette um den Mund, faltete sie dann sorgfältig und legte sie neben sein Gedeck. „Nun ja, viel werden es nicht sein. Ich schätze mal, an die hundert Mann werden wir aufstellen können. Nicht annähernd ausreichend für unsere Bedürfnisse.“ Die Hexe nickte, sie hatte die gleichen Informationen. Ihr Blick wanderte zum Magier, sie ahnte, dass er etwas vorhatte und das bereitete ihr Kopfzerbrechen. Ashan war nie ein Krieger gewesen, er war ein Mann der Worte, des Wissens, ein Suchender. Sie hingegen war eine Frau der Tat, eine die das Schwert ebenso in die Hand nahm wie den Kräuterkessel. „Das habe ich befürchtet. Also, wenn wir hier fertig sind, dann lasst abräumen, schließt nachher gründlich ab und dann brauche ich euch beide.“ Er sprach sehr bestimmt, so als würde er beständig irgendwelche Befehle geben. Ohne weitere Kommentare kamen beide seiner Aufforderung nach. Ashan Mironia seinerseits fühlte ein Chaos in sich, das von außen auf ihn einzuprügeln schien, seine magische Panzerung zu durchdringen versuchte. Überall sah er sie bereits, die dämonischen Trugbilder tanzten um ihn herum. Es war fast zu viel für seine Nerven. Doch er war stärker als er aussah, viel stärker. Und wären nicht die Meuchelbrüder gewesen, diese hinterhältigen, verlogenen Betrüger am Reich und am Volk, würde die Sache schon etwas anders aussehen. Seine Mimik wurde zu Stein, ebenso fest war sein Wille, dem Eindringen des Feindes auf eine Art und Weise ein Ende zu bereiten, die selbst dem kindlichen Kaiser eine Erschütterung auf seinem Thron bescherte.
„Kyana, du weißt, was du zu tun hast. Nysil, stell dich hinter mich und halte mich“, ordnete er an, als die Ordonanz den Tisch abgeräumt und der Raum gesichert war. Die Augen hatte der Magier bereits geschlossen und suchte nun seine innere Mitte. Die Hexe kniete sich ein wenig unwillig vor den Magier, nahm seine Hände in ihre und gab ihm von ihrer Kraft. Einen Moment schaute Nysil erstaunt auf die sonst so unwirsche Frau, die nun fast zart die Handgelenke des hageren Mannes umklammert hielt und tat dann selbst, wie ihm geheißen worden war. Er fand die Sache etwas sonderbar, aber das waren alle Magier in seinen Augen und diese Situation verlange eben nach etwas anderen Methoden. Er musste sich in das Unvermeidliche fügen.
Ashan legte den Kopf in den Nacken. Sein Atem verlangsamte sich, bis er kaum mehr zu erkennen war und dann war er aus seinem Körper. Sein Geist befand sich auf der Suche nach dem Dämonenanführer. Lange brauchte er nicht zu suchen, dann fand er ihn in einer feurigen Umgebung, die ihn fast in seinen Körper zurückgeschleudert hätte. Die Hitze war schier unerträglich. Er konnte fühlen, wie sie seine Haut versengte, doch blieb er wo er war. Nichts durfte ihn jetzt aufhalten. Er spürte, wie ihm Kyana immer wieder mit ihrer eigenen magischen Präsenz stärkte, der Wille des Centurios half ihm ebenso. Weiter ging er auf das grauenhafte Abbild zu.
„Ich wusste, du würdest mich finden, Abschaum“, schnarrte es in seinem Geist und Ashan konnte nicht verhindern, dass er vor Angst erschauderte. Er kannte diesen Tonfall. Zu gut kannte er ihn. Sein Staunen war hier in der Überwelt nicht zu verheimlichen, er versuchte es auch gar nicht. „So bist du also der Feind. Wie lange schon vergiftest du die Herzen des Volkes?“ Seine Stimme klang ihm selbst hohl und ängstlich. „Länger als du lebst, Ashan Mironia, mein dritter Magus“, antwortete die Seele des kindlichen Kaisers. „Selbst du wirst es nicht schaffen, mich zu besiegen. Daran sind schon weit mächtigere Magier gescheitert. Du bist nur ein Mensch, sterblich, dumm, schwach. Wir werden obsiegen und niemand wird uns aufhalten …“ Das Gesicht des Magiers war noch immer der schauderlichen Fratze seines Gegenübers zugewandt, das sich nun veränderte und zum angenehmen Äußeren des kindlichen Kaisers wurde. Jung, unverbraucht, jovial und fast zu gutmütig, um wahr zu sein, schaute der Dämon nun Ashan an. „Ich hätte es wissen müssen, als du mir den Auftrag gegeben hast. Nun denn, dann wird sich unser Schicksal hier erfüllen, Chraik“, sprach der Magier und verwendete den Dämonennamen seines Gegenübers. Dieser wirkte einen Moment unsicher, denn das war ein Geheimnis und niemand durfte den Namen aussprechen. Seinen Namen, den Namen des Herrschers der Welt, dem Bringer von Feuer und Tod. Ashan achtete nicht darauf, ließ sich nicht mehr ablenken. Selbst das dringende Bedürfnis seines Körpers, sich zu schützen, ließ er außer Acht. Kyana musste sich darum kümmern. Es war ihre Sache, ihm solange Kraft zu geben, wie er brauchte, um das Unwesen in die Unterwelt zurückzuschicken. Nysil würde wohl nur merken, wie er immer heißer wurde, von einem wilden Fieber verzehrt. Doch auch daran durfte der Magier nicht achten. Entschlossen blendete er alles Körperliche aus, selbst die stofflich begrenzte Welt schaltete er aus seinem Denken. Alle Aufmerksamkeit richtete er auf Chraik.
Der nun folgende Kampf zeichnete sich durch äußerste Brutalität aus. Ashan brannte bereits lichterloh und noch immer hatte er die tätowierten Arme erhoben, auf denen sich magische Symbole rankten, die nun zum Leben erwachten, sich gegen das Böse des Landes erhoben, dazu kamen noch die Kräfte der Hexe, die mit einem Mal neben ihm stand und Feuer mit Feuer bekämpfte. Kyana brannte inmitten einer Feuersäule, die sie selbst erzeugt hatte. Sie war die Hüterin des Feuers, die Herdmutter, oberste Hexe des Landes und als solche trat sie nun dem Dämon gegenüber. „Niemals Chraik, Dämonenfürst, wirst du das Land erobern, welches von Sterblichen bewohnt wird!“, rief sie, gleichzeitig schleuderte sie Flammen auf den Dämon, der nur lachte, abermals seine Gestalt änderte und nun endlich sein wahres Gesicht zeigte. Wie ein Engel wirkte er und dennoch strahlte er Unheil und eine Bösartigkeit aus, die seinesgleichen suchte.
In der stofflichen Welt zog plötzlich eine tiefe Dunkelheit über das Land, tiefe Wolken hingen drohend am Himmel, Stürme peitschten über die Meere, entwurzelten Bäume und zerstörten Bauwerke. Doch in der Zitadelle stand noch immer Nysil hinter Ashan und hielt ihn aufrecht.
Im Nebel der Überwelt wurde es kälter. Langsam erlosch Kyanas Feuer und sie senkte die Arme. Ashan schaute zu ihr, die erschöpft wirkte und es hier im Land der Offenbarungen nicht verbergen konnte. Sein Geist, der hier einen eigenen Körper erzeugte, ging zu ihr, nahm sie an der Hand und abermals stellten sie sich dem Dämonenfürsten. Der lachte böse und schleuderte weiter mit seiner Magie auf die beiden Menschen.
„Niemals, hörst du, niemals wirst du dich weiter von den Seelen der Sterblichen nähren!“, rief Ashan, denn er hatte eine Idee, eine wahnwitzige zugegeben und er fürchtete sich, sie auszuführen. Er wendete sich zu Kyana hin, nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie auf den Mund. Gierig war der Kuss zu nennen. Zuerst schrak die Hexe zurück, doch dann erwiderte sie den Kuss, bis sich der Magier von ihr löste, beide Arme in die Höhe reckte und verschwand. Mit ihm war auch die Überwelt verschwunden, Kyana fand sich am Boden sitzend wieder und fragte sich, was er vorhatte. Ärgerlich runzelte sie die Stirn und hätte ihn am liebsten zurückgeholt, denn mit diesem letzten Kuss hatte er sie ihrer Kräfte beraubt, doch selbst sein Körper war verschwunden. Sie war mit Nysil allein und unfähig etwas zu tun. Der Magier hatte sich ihre Kräfte einfach genommen, ohne zu fragen oder etwas zu erklären.
Ashan säumte nicht mehr. Als er seinen Körper wieder hatte, verwob er Kyanas Fähigkeiten mit seinen, fühlte sich stärker werden. Leben und Tod verbanden sich, wurden eins und er war in der kaiserlichen Residenz. Der Magier fand sich am Bett des kindlichen Kaisers wieder. Entschlossen warf er sich auf den schlafenden Knaben, stach mit seinem Dolch auf den kleinen Körper ein, dann drückte er ihm einen fordernden Kuss auf den Mund und saugte die dämonische Präsenz in sich.
„Vergiss niemals, Chraik, ich bin dein Verschlinger“, sagte er, als er fühlte, wie der Dämonenfürst in ihn fuhr. Jetzt musste er schnell handeln. Er durfte nicht zaudern, nicht sein Leben über das aller anderen stellen. Kyanas Kraft war das Feuer und in diesem verzehrte sich der Magier nun. Fest schloss er den Geist des Dämons in sich ein, sodass dieser mit ihm sterben musste. Doch Chraik war stark, viel stärker als Ashan gefürchtet hatte. So dauerte es lange und der Dämon versuchte immer wieder die Feuer zu löschen, in die sich der Magier hüllte. Dann merkte Ashan, wie der Dämon seine Kräfte auf das Land ausdehnte und die Elemente rief, um sie irgendwo zu entladen.
Während der Dämon in der fernen Residenz um sein Leben rang, entfachte er, im Wunsch sich für diesen Frevel zu rächen, einen wahren Feuersturm. Sein Zorn war immens, als er merkte, wie Ashan die Kraft der Elemente in eine andere Richtung schob und verstärkte seinen Angriff noch. Nun sollten auch die Begleiter des Magiers einen bitteren Tod sterben. Nichts wollte er ihnen lassen, ihre Seelen sollten unbegraben und vergessen im leeren kalten Grau verharren bis zum Tag seiner Wiedergeburt, dann wollte er sie holen und quälen.
Blitze ließ er auf das Dach einschlagen, Hagelkörner, so groß wie die Köpfe von Neugeborenen durchdrangen Fenster und sogar das Mauerwerk. Die Elemente entluden sich über dem Kastell, zerbrachen es wie einen trockenen Zweig und ließen kein lebendes Wesen zurück. So starben auch Kyana und Nysil, ohne die Möglichkeit sich dieses Angriffs zu erwehren. Der Sturm tobte, raubte Leben, mit dem auch der Dämon seine Reise in die Unendlichkeit antrat und zurück in die Unterwelt verbannt wurde.
Tihan I., Kaiser von Estrylla lag mit leeren Augen im Bett, Blut bedeckte das Laken und den weißen Körper des Knaben, doch ein Lächeln zierte sein Gesicht. Auf dem Boden neben dem Bett lag die leere Robe des Magiers, glühte noch einmal auf und verschwand in einer Rauchsäule. Nichts blieb übrig von diesem letzten Lichtmagier des Kaiserreichs und der Thron war leer.
Die Dämonen waren besiegt.
Vorerst.
Wer würde wachen?
(c) Herta 6/2012