Seemannslos
Nie im Leben werde ich diese Segellektion wieder vergessen! Mir kommen jedes Mal die Tränen, wenn ich mich daran erinnere, und hinterher habe ich immer eine solche Latte, dass ich nur noch dann daran denke, wenn ich eine Frau bei mir habe, die mich wenigstens in entfernter Weise an Eva erinnert. Außerdem denke ich dabei immer an Backpflaumen.
Ja, tatsächlich, an Backpflaumen!
Sie hat eine ganze Tüte davon aus ihrer Schlafkajüte heraufgeholt und reicht mir eine Handvoll davon hin.
„Da, steck dir das in die Taschen. Die wirst du bald brauchen. Das hilft gegen die Seekrankheit. Wenn es dich aber trotzdem erwischt, dann riechst du wenigstens nicht so schlecht aus dem Mund. Ganz langsam lutschen und zerkauen und den Stein mindestens zehn Minuten drin behalten, bis er ganz blank ist. Und immer schön in Lee kotzen, sonst musst du das Deck scheuern.
Ich brauche sie wahrscheinlich auch, so ganz werde ich das Problem nämlich nie los. Ich stelle die Tüte ins Cockpit, falls du noch mehr davon brauchst. Oder ich. Nie fahre ich ohne drei Tüten davon los. Die lasse ich mir extra aus Hamburg kommen.“
Ich schüttele nur mit dem Kopf. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, wie wir gegen diesen kräftigen Wind nach Westen segeln sollen. Völlig unmöglich!
Der Passat weht steif aus Nordwest und wir wollen nach Westen. Verrückt!
„Wo ist denn jetzt Lee?“
„Das ist die Seite, wo der Wind vom Schiff weg weht. Die andere Seite ist Luv. Wenn du warm duschen willst, dann musst du einfach nur nach Luv pinkeln, Ari.“
Wie kann die jetzt bloß solche dämlichen Witze reißen? Na gut, ich weiß bescheid. Trotzdem zittern mir die Knie. Ist das schon die Seekrankheit?
„Ari, du bist jetzt der Fockaffe. Die Fock ist das dreieckige Segel ganz vorn, das da am Vorstag angeschäkelt ist. Das Vorstag ist das gespannte Drahtseil ganz vorn, zwischen Mast und Bugspriet. Aber das weißt du ja. Am freien Zipfel des Focksegels sind die beiden Fockschoten, diese langen Taue. Damit wird das Segel geführt. Die Fock ist ganz wichtig, wenn wir hart am Wind kreuzen. Es ist Mittag. Die Sonne steht im Süden. Los geht’s!“
Sie lässt auf einmal das am Mast aufgerollte große Besansegel herunter fallen, indem sie so etwas wie eine Reißleine zieht. Der lange Besanbaum schwebt jetzt mittschiffs hinter dem Mast, genau über dem Steuerrad. Das Segel, das jetzt noch auf dem Deck liegt, beginnt sich schon im Wind aufzublähen, aber die Spiere mit seinem oberen, schmalen Ende muss erst noch am Mast hochgezogen werden.
Wenn ich das jetzt machen würde, dann würde doch das Boot wieder Schlagseite kriegen, oder? Das dreieckige Focksegel flattert. Alles wirkt chaotisch.
Die „Divecat“ driftet langsam zur Leeseite hin. Eva dreht das Steuer, so dass der Bug genau gegen den Wind zeigt. Beide Segel werden schlaff. Sie fangen an zu flattern.
„Jetzt, Ari! Zieh das Besanfall hoch! Das ist der Flaschenzug da am Mast. Dann musst du das Seilende unten am Mastfuß gut festmachen, mit einem Knoten. Wenn du fertig bist, dann gehe nach vorn und schnapp dir die linke Fockschot. Schön festhalten! Du dich auch!“
Sie macht mit mir „learning by doing“. Ich frage nichts, bin aber auf alles gefasst.
Dann geht es auf einmal ganz schnell. Eva hält mit einer Hand locker das Tau, welches vom freien Ende des Besanbaumes kommt und über so etwas ähnliches, wie einen kleinen Flaschenzug läuft. Sie dreht das Steuer und richtet den Bug nach Süden, auf die Sonne zu. Der Nordwestwind erfasst die Segel, sie blähen sich fast schlagartig auf. Ich werde vom Zug der Schot kräftig gegen die linke Bordwand geschleudert. Das Boot neigt sich zur linken, der Backbordseite.
„Nachlassen, gib mehr Seil frei! Gut so. Und jetzt langsam wieder anluven. Ziehe am Tau, bis das Segel ganz glatt und rund steht und nicht mehr flattert!“
Ich sehe, dass sich der Bug wieder von der Sonne entfernt und leicht in Richtung West dreht. Das Focksegel strafft sich, das Boot legt sich soweit nach Backbord, dass die Reling unter Wasser kommt und ich bin draußen, ganz im Wasser. Immer noch habe ich das Tau in den Händen. Jetzt ist es meine Rettungsleine. Eva hat das Boot wieder aufgerichtet, indem sie das Steuer gegen den Wind gedreht hat.
War das etwa Absicht von ihr? Diesem verrückten Weib traue ich alles zu!
Ich habe richtig vermutet. Als ich patschnass achtern über die Taucherleiter an Deck komme, grinst sie mich schon an, wie einen Äquatortäufling.
„Entschuldige, Ari, aber das war notwendig. Es erspart mir langwierige theoretische Erklärungen, für die wir keine Zeit haben.
Du hast es jetzt ja selbst gemerkt:
Wenn das Boot an den Wind geht, musst du die Schot nachlassen, nicht festhalten. Erst dann, wenn der Kurs anliegt, ziehst du an der Schot, bis sie straff ist und das Segel nicht mehr flattert.
Wenn das Segel glatt und gewölbt steht, dann wirkt es nämlich bei Gegenwind wie die Tragfläche eines Flugzeuges, nur dass es statt Auftrieb Vortrieb erzeugt. Dass man gegen den Wind Fahrt aufnehmen kann, das hast du ja soeben selbst gemerkt.
Dein Knoten am Besanfall würde uns übrigens bei einem Sturm auf den Meeresgrund schicken.“
„Willst du mich jetzt etwa den ganzen Tag lang schleifen, Eva? Wie oft gedenkst du mich noch über Steuerbord ins Wasser gehen zu lassen?“
„Über Backbord, Ari. Es war über Backbord. Aber wo du es sagst: Zieh lieber deine Hosen aus, es wird noch öfters nass werden.“
„Steuerbord! Backbord! Warum heißt das nicht einfach Links und Rechts? Warum zum Teufel nennt man das so? Das weißt du aber auch nicht, du Schlaumeierin, stimmts?“
„Das weiß doch fast Jeder, Ari. Das stammt noch von den Wikingerschiffen. Die hatten nämlich nur ein langes Paddel als Steuer, und das war immer an der rechten Bordwand angebracht, also am Steuerbord. Dadurch zeigte der Back, also der Arsch vom Steuermann, immer nach links, also nach Backbord.“
„Ich fasse es nicht! Also gut. Dann werde ich mir jetzt merken: Da, wo mein Arsch über Bord ging, da ist Backbord, ok? Und warum, um Himmels Willen hätte uns mein Knoten auf den Meeresgrund geschickt?“
„Na, dann komm doch mal. Nehmen wir einfach einmal an, dass wir in einen Sturm geraten sind, und das Besansegel schnellstens einholen müssen. Dann mache mir das doch bitte einmal vor, Ari. Löse doch bitte mal schnell deinen Knoten da.“
(…., …, …)
„Scheiße! Der ist total festgezogen, da hilft nur noch dein Messer.“
„Siehst du. Das nennen wir eine Landratten-Filzlaus, aber keinen Seemannsknoten. Ein guter Knoten muss sicher halten, sich unter Belastung fester ziehen und trotzdem leicht und schnell zu lösen sein. Da hast du ein Spleißhorn, damit kannst du ihn aufkriegen. Dann zeige ich dir, wie man richtige Knoten macht.“
Es scheint doch etwas dran zu sein, dass man unter Einsicht in eigene Fehler und mit Wut im Bauch viel schneller lernt. Nach zwei Stunden kann ich schon fünf verschiedene Seemannsknoten. Toll! Die liebe Eva hat inzwischen Makkaroni mit Büchsengoulasch und Eis aus der Kühltruhe gemacht. Leider ist das Eis schon flüssig. Wir trinken es einfach aus Wassergläsern.