Die Königin ist müde
Als die Königin endlich allein war, gestattete sie sich, ihr zartes Haupt in die schmale Rechte zu stützen. Eine Geste, die sie ihren Untertanen niemals zu sehen erlaubte.Die Jahre hatten ihr Haar grau und ihre Gesichtszüge scharf werden lassen. Noch immer hielt sie sich gerade, wie eine junge Weide. Aber sie war müde.
Sie war es müde, tagein, tagaus das Protokoll zu befolgen, sie war es müde, stundenlang Audienzen zu geben, huldvoll zu lächeln, wissend zu nicken und anmutig ihre Hand zum Kuss zu reichen. Sie war es müde, Komplimente zu hören, die nicht so gemeint waren und nur dem Zweck dienten, gutes Wetter zu machen.
Die Königin ließ ihre Gedanken reisen. Vieles hatte sie ihrem Volk gegeben. Kriege. Hunger. Not. Elend. Aber letztendlich auch Wohlstand.
Kraft hatte es gekostet, für das Volk da zu sein, Entscheidungen zu treffen, es zu lenken und zu führen.
Jetzt war die Königin müde.
Ihr Volk war zufrieden und satt und die Königin dachte an den schmucken Soldaten, den sie so oft heimlich beobachtet hatte, bei der Wachablösung. Damals, als sie noch jung war.
Einen hübschen Mann zu haben, der sich ein Weib wünschte, das für ihn da sei. Das war ihr nicht vergönnt. Einen Mann, der sich um seine Familie sorgt, der seine Felder bestellt und am Sonntagmittag brav am Tisch sitzt, inmitten seiner Kinderschar.
Den schmucken Soldaten hatte die Königin längst überlebt. Sie selbst hatte ihn an die Front geschickt, damit ihre Gedanken nicht abgelenkt würden.
Die Königin, ihr Gesicht in der Hand, die ihr Haupt stützte, weinte.
Ihre Krone fiel herab und zerbarst.