nachbarschaftliches
Ich bin noch nicht so weit. ich muss mich ablenken, von dem Problem, das jetzt zwar meinen Aufenthalt in dieser illusteren Klink rechtfertigt, aber mir auch schwer im Magen liegt.
„Sag doch mal, Claudi, wenn ich dich jetzt so nennen darf: Macht ihr das mit jedem Patienten so, dass er durch diesen dunklen Tunnel muss und dabei nackten Frauen aller Kaliber begegnet? Ist denn dabei noch keiner mit Herzinfarkt auf der Strecke geblieben?“
„Claudi“ schweigt erst einmal eine Weile.
„Ja, natürlich kannst du mich gerne Claudi nennen. Was diesen Tunnel betrifft…, den wollten wir zuerst ausbauen und mit schönen Kacheln verkleiden, bis uns eines Tages einmal die Lampensicherung durchbrannte und einer unserer Patienten darin hängen blieb. Zur „Tröstung“ schickten wir ihm eines unserer Mädels entgegen und die war zufällig gerade nicht bekleidet. Dabei hatten wir auch zufällig die Wärmebildkamera laufen, weil wir nach Rissen im Gestein gesucht hatten, durch die Kälte und Wasser eindringen könnte. Dabei stellten wir fest, welche frappierenden Diagnosemöglichkeiten sich da eröffnen. Das ist weit besser und effektiver als jedes Gespräch zur Anamnese. Du siehst es ja an deinem Beispiel. Nie hätten wir sonst von deinem Problem erfahren.
Übrigens: mein Kompliment, Ari. Du hast dich bei den Hilfeschreien nicht hinter Susi versteckt, sondern hast sie beiseite geschoben und bist zur Rettung geeilt. Die meisten anderen verstecken sich nämlich ganz einfach hinter unserer Susi und warten, bis die Gefahr vorüber ist oder die Schreie ganz verstummen. Alle Achtung!“
„Wer ist Susi?“
„Das ist unsere Grizzlybärin, mit der du gekämpft hast. Sie wiegt fast vier Zentner“
„Ach, die Sumo-Ringerin? Tolles Kaliber! Aber das ist doch mein Job.
Keine Ursache. Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.“
„Wegen des Herzinfarktes? Ja, wir hatten einen einzigen Fall. Der war hier aber in der ganz falschen Klinik. Der hätte wirklich keine Potenzanhebung mehr gebraucht. Zum Glück hatte er ja, genau wie übrigens auch du, auf der Karte unterschrieben, dass er für alle Folgen selbst haftet, das steht doch kleingedruckt auf der roten Karte, auf die du klar und deutlich deinen Namen gesetzt hast, nicht wahr?“
„Keine Ahnung. Als ich den Abstrich vom „M“ suchte, muss mir das entgangen sein.
Toller Trick!“
„Hast du es dir überlegt? Wollen wir nicht versuchen, deinem Problem beizukommen, Ari? Du wirst sehen, was du im Leben schon alles verpasst hast, und du wirst die Tür aufstoßen, die dich in einem Teufelskreis festhält. Ich verspreche es dir.“
Tür aus dem Teufelskreis? Habe ich doch gestern schon mal gehört…, na hoffentlich kommt die mir jetzt nicht auch noch mit Attila. Ok, ich versuche es einfach mal.
„Das ist aber eine lange Geschichte. Claudi.“
„Das macht doch gar nichts. Ich stehe dir voll und ganz zur Verfügung, Ari.“
„Da muss ich ganz weit von vorn anfangen:
Als meine Frau Pilar noch lebte, da war ich Maschinenbauingenieur und wir hatten uns ein schönes kleines Haus mit Garten zusammengespart und waren außerdem noch ziemlich hoch verschuldet, wegen des Hausbaues.
Ich hatte aber einen guten Job bei VW in Wolfsburg. Alles war wunderbar, bis Pilar den Krebs in der Brust bekam. Wir hatten zusammen eine Tochter, die Ines. Sie war damals gerade vier Jahre alt. Pilar wolle unbedingt wieder gesund werden und machte jede Therapie mit, von Strahlen bis Chemo. Sie pilgerte sogar nach Lourdes. Es half nichts, sie verlor ihre rechte Brust. Ich musste meinen Job kündigen, weil sich ja jemand um Ines kümmern musste. Ines war unser Allerliebstes.
Ich suchte mir einen Job, wo ich mir meine Zeit etwas flexibler einteilen konnte. Ich wurde Fahrer, technischer Assistent und Hilfs-Ermittler bei einem Rechtsanwalt. Pilar bekam aber auch noch Krebs in der Lunge und verstarb nach zwei Jahren. Ich war allein mit Ines.
Da habe ich mich selbständig gemacht und gründete ein privates Detektivbüro.
Jetzt konnte ich mir meine Zeit einteilen, wenn das Geld auch knapp wurde, sehr knapp. Wir kamen gerade so über die Runden.
Doch dann habe ich genau den Fehler gemacht, vor dem mich mein vorheriger Arbeitgeber, der Rechtsanwalt, immer gewarnt hatte:
„Nimm niemals einen Job in deiner unmittelbaren Nachbarschaft an, Ari“, hat er gesagt, “das bringt in den meisten Fällen unendlichen Ärger ein.“ Aber ich brauchte dringend Geld. Ines wurde immer anspruchsvoller, was ihre Klamotten betraf und ich konnte ihr noch nie etwas abschlagen. Sie war mein einziger Sonnenschein.
Da kam eines Tages mein direkter Haus-Nachbar, ein Autohändler aus der Gegend, zu mir und bot mir zehn Prozent des Fundwertes an, wenn ich herauskriege, wo seine Frau das ganze Geld bunkert, das sie für sich aus dem Haushalt abzweigte. Er klagte darüber, dass er nur noch billigste Fertiggerichte und Beutelsuppen zwischen die Zähne bekäme, obwohl er ihr doch jeden Monat 1500 DM an Haushaltsgeld zukommen ließe. Kurz und gut: ich fand es heraus, und das war das Ende. Die Summe war gar nicht so erheblich und mein Honorar dementsprechend bescheiden. Dafür hatte ich aber den ewigen Hass dieser Frau auf mich gezogen. Sie verfolgte mich und Ines auf Schritt und Tritt. Sie zeigte Ines bei jedem Händler und in jedem Laden an, weil sie angeblich beobachtet hätte, dass die Kleine etwas geklaut habe. Sie zeigte mich mindestens zehnmal wegen Falschparkens, illegaler Müllbeseitigung und sonst was an.
Das Schlimmste aber war, dass sie mir und Ines, die inzwischen elf Jahre alt war, auf Schritt und Tritt mit ihrem Fotoapparat auflauerte.
Eines Tages, es war im August, glaube ich, da fotografierte sie mich und Ines, als wir uns in unserem Garten auf einer Decke fröhlich und zum Gaudi kabbelten, so wie Ines es schon mit drei Jahren immer gerne getan hatte. Wir haben das bösartige Weib gar nicht bemerkt. Ines trug nur ihr Höschen, hatte sich auf mich gesetzt und kämpfte zum Spaß mit mir, wie es Kinder eben manchmal gerne tun.
Dieses bösartige Weib zeigte mich beim Jugendamt wegen Kindesmissbrauch an und legte diverse ähnliche Fotos als Beweise vor. Ohne mein Wissen haben sie Ines aus der Schule abgeholt und befragt. Die Nachbarin hatte ihnen vorher einen unüberschaubaren Wust von abstrusen Anschuldigungen und angeblich von ihr bei uns beobachteten Schweinereien erzählt.
Ines kam erst spät am Nachmittag völlig verheult und am Boden zerstört mit dem Auto der Jugendhilfe zurück. Mich haben sie gleich wegen dringenden Verdachts des Missbrauchs eines schutzbefohlenen Kindes festgenommen und in Untersuchungshaft gesteckt. Sie haben mir auch die Zeugenaussagen von Ines vorgelegt. Die Fragen waren so gestellt, dass ein elfjähriges Mädchen kaum zwischen natürlichen Vorgängen im Leben und sexuellen Anspielungen unterscheiden konnte. Ihre Aussagen wurden auch nicht wörtlich wiedergegeben, sondern immer in der Form: „Die Zeugin bestätigt, auch auf mehrfache Nachfrage, dass…“, dann ein unverständlicher Juristen-Kauderwelsch, jedenfalls für Ines. Es muss einfach grässlich für sie gewesen sein.
Sie kann und will bis heute nicht mit mir darüber sprechen, obwohl wir uns sonst prächtig verstehen, es ist ein Tabu. Sie fühlt sich schuldig, dass ich für ein halbes Jahr im Gefängnis gesessen habe.
Ja, ich kriegte zwei Jahre.
Erst, als mein Freund Alf davon erfuhr, ging er zu meinem Rechtsanwalt und legte ihm alte Fotos vor, wo auch meine Frau Pilar noch darauf zu sehen war. Die Fotos bewiesen, dass solche kleinen „Ringkämpfe“ zwischen mir und meiner kleinen Tochter bei uns schon lange üblich und völlig harmlos waren. Der Prozess wurde neu aufgerollt und ich wurde freigesprochen.“
„Pfff, das ist ja wirklich schlimm, Ari, das tut mir sehr leid. Zum Glück war es ja nur ein halbes Jahr.“
„Nur ein halbes Jahr? Zum Glück?
Weißt du überhaupt, was es bedeutet, als „Kinderschänder“ in den Knast zu kommen?
Da bist du ganz unten. Und wenn es auch noch die eigene Tochter betrifft, dann bist der Unterste der Unteren.
Das ist doch immer das Erste, was die Vollzugsleute den anderen heimlich stecken.
Dann haben sie nämlich wieder Ruhe, weil die Strafgefangenen ihre ganze Wut und ihren vollen Frust an den Neuen, ganz Unteren auslassen können. Frage mich lieber nichts Näheres, wenn du nicht willst, dass ich dir hier deine hübsche Einrichtung in Fetzen schlage. Ich habe jedenfalls dort gelernt, meine Fersen, meine Faust und meine Ellenbogen zu gebrauchen.
Das war das einzige Gute daran. Ines haben sie ins Internat gesteckt, das Haus war weg.
Jedenfalls weißt du jetzt, warum ich alles Weibliche im Alter meiner Tochter und darunter scheue, wie der Teufel das Weihwasser. Ich weiß ja selbst, dass das nicht normal ist, aber ich konnte bisher gut damit leben.“
„Entschuldige bitte, es war nur so dahingesagt. Es muss wirklich eine schlimme Sache für dich gewesen sein, Ari.
Nicht nur für dich. Besonders schlimm natürlich auch für deine Tochter Ines. Wie geht es ihr denn heute? Ist sie verheiratet? Hat sie Kinder? Lebt sie mit einem Mann zusammen?“
„Nein, nicht dass ich wüsste. Hin und wieder besucht sie mich, wir reden ein bisschen miteinander, aber nie über Vergangenes. Sie hat einen schönen Beruf und auch ein gutes Auskommen, wie ja so viele junge fleißige Frauen heute, aber von einem Mann bei ihr weiß ich wirklich nichts. Wenn sie Kinder hätte, dann wüsste ich das schon.“
„Schlimm, wirklich sehr schlimm. Aber wir werden dir helfen, Ari. Es könnte aber hart und schwer für dich werden, sehr hart und sehr schwer.“
„Ich bin hart im Nehmen, Claudi, das weißt du doch.“
„Gut. Dann folge jetzt bitte wieder dem blauen Licht über den Türen, dann kommst du in deine Suite. Ruhe dich aus und bereite dich vor.“