Reisebericht Erde 3
„Wir mußten sie durchsuchen, sich hat sich leider gewehrt“, meinte einer der Agenten verschmitzt. Das gekräuselte, schwarze Haar stand in wüster Unordnung auf ihrem breiten Schädel. „Ihr Schweine!“ kreischte sie lebhaft – und Sam wußte gleich wonach sie gesucht hatten.„Schon 11 Uhr“, lamentierte Lockshire, „wir werden erwartet“.
Inzwischen brütete unerträgliche Mittagshitze in den fast leeren Straßen. Alles schien sich müde verkrochen zu haben. Eine schlechte Zeit für Verhöre, außerdem knurrte Sams Magen schon bedenklich. Dieser Teil seines Körpers hatte heute noch keinerlei Befriedigung erfahren!
Das staatliche Kontrollamt – genau zwischen der St. Judas Kirche und den Aufnahmestudios für Volksmusik, in der Prinz-Pippin-Straße gelegen, strahlte grellweiß in der Sonne. „Herzilein, lieb’s Herzi mein...“ drang es leise, aber bestimmt, durch die, mit kitschiger Lüftelmalerei verzierten Mauern der Aufnahmestudios. Im staatlichen Kontrollamt wartete die Dunkelheit.
Agent Lockshire ging durch unbeleuchtete Gänge im Bauch des staatlichen Kontrollamtes, in denen das Zwielicht hauste, voran. Dann stieß er die Tür zur Turnhalle auf. Hier war es völlig dunkel, bis auf ein kleines, von 13 Spotlights erhelltes, kreisrundes Feld. In der Mitte des Feldes stand ein Stuhl. Hauptkommissar Gleich trat ein. Die Türe hinter ihm ging krachend zu und fiel sofort in mehrere Schlösser und Riegel.
„Nehmen sie Platz Kaspar“, sagte eine monotone Lautsprecherstimme. Sie klang synthetisch. Sam mochte es nicht, wenn ihn jemand mit seinem richtigen Vornamen „Kaspar“ anredete. Damit war er in der Schule zu oft gehänselt worden.
„Sie haben uns wichtiges Beweismaterial vorenthalten, wissen sie das?“ Das stellte die synthetische Stimme nun mit traurigem Unterton fest. Wieder fragte sich Kaspar Sam, woher der Weltgeheimdienst überhaupt von den Briefen wissen konnte. Irgendjemand musste ihn verpfiffen haben. Aber der WGD wußte viel mehr. „Wir haben Grund zu der Annahme, daß sie mit einer außerirdischen Interessensgemeinschaft konspirieren“.
„Ha“ lachte da Kaspar. „Woraus können sie so etwas schließen?“
„Wir haben alle ihre persönlichen Kontakte überprüft und beobachtet, es haben sie keine Anhaltspunkte für eine schriftliche Mitwirkung von unseresgleichen ergeben. Das Material ist immer wie aus dem Nichts aufgetaucht, während sie angeblich geglaubt haben es sei mit der Post gekommen. Der Briefträger konnte sich aber nicht erinnern etwas anderes als ganz offizielle, irdische Schreiben bei ihnen abgegeben zu haben“.
„Trotzdem kann es doch auch bloß ein Irrer gewesen sein“.
„Ob Außerirdische oder Irre, das ist doch egal!“ wies ihn die Stimme zurecht. „Außerdem ist das sowieso das Gleiche. Jedenfalls haben sie den Glorienschein unserer Rechtsordnung in sich selbst und damit in jedem von uns verletzt. Aber Gloria darf nicht sterben“.
„Fortpflanzungsgemeinschaft!“ sagte Sam trocken.
Aber irgendwer hatte das gehört und als unverdaulich empfunden. „Warum verhöhnen sie unsere Art“, fauchte der synthetische Gesprächspartner sogleich. „Was wissen sie schon von den Schreien junger Frauen bei der Entbindung? Sie waren ja nie dabei. Die meisten von uns haben Söhne und Töchter. Was würden sie tun, wenn sie erführen, daß sie uns alle verraten haben?“
„Das bringe ich schon wieder in Ordnung“, behauptete Sam mit belegter Stimme.
„Ganz bestimmt nicht!“ erwiderte die Stimme mit väterlichem Nachdruck. Zum Beweis zeigen wir ihnen einen kleinen Film“.
Die Spotlights erloschen. Eine 3-D-Vision leuchtete auf.
Eine zierliche, dunkelhaarige Frau, die zwei Einkaufstüten auf dem rechten Arm trug und mit der linken Hand die Hand ihrer kleinen Tochter hielt, blieb auf dem Parkplatz eines Supermarktes stehen. Sie beobachtete zwei Männern in grauen Straßenanzügen, weißen Hemden und dunklen Krawatten, die zielstrebig auf sie zu kamen. „Ja?“ sagte sie. Sie konnte es sich selbst nicht erklären, aber ein flaues Gefühl beschlich die dunkelhaarige Frau, die offensichtlich aus dem mittleren Süden Europas stammte. Einer der beiden Männer zeigte ihr einen Ausweis. Sie warf einen kurzen Blick darauf und wußte: Jeder Ausweis konnte gefälscht sein. Zunächst nahm sie jedoch wohlwollend an, daß es sich um den Ausweis eines Polizisten handelte. Was war geschehen?
Ihr erster Gedanke galt ihrem Mann Sepp, der sich auf einer wichtigen Konferenz im Zentrum von Münchhausen aufhielt. Jedenfalls hatte er ihr gesagt, daß die Konferenz dort stattfinden sollte (die synthetische Stimme erläuterte monoton und absolut gefühlsneutral den Filmverlauf) und natürlich hatte sie keine Sekunde daran gezweifelt. Zumal sie Sepp gestern noch in Münchhausen angerufen und er ihr gesagt hatte, daß alles in Ordnung sei und er sich melden würde, sobald er sich auf den Rückweg machte. Sie hatte noch ein wenig mit ihm plaudern wollen, aber die Verbindung war urplötzlich abgerissen. Verdächtig war ihr das aber nicht vorgekommen. Sie wußte ja, Sepp hasste Privatanrufe wenn er sich mit geschäftlichen Dingen befasste und es keinen sachlichen Grund für eine Störung gab.
„Ist was mit Sepp?“ fragte die zierliche Dunkelhaarige und ließ sich von einem der beiden grau gekleideten Männer die Einkaufstüten abnehmen.
„Ja“, sagte der andere, der ihrer adoptierten Tochter, einer kleinen Inderin über das Haar strich. Die Kleine war eine Spur zu zutraulich, dachte Maria. Das hatte sie oft genug aus ihr herauszubringen versucht. Nun aber war sie froh darüber, denn Shari lenkte fast die ganze Aufmerksamkeit des zweiten Mannes auf sich. Kinder können mit ihrem Vertrauen Vertrauen erzeugen.
„Was ist passiert?“
„Sepp hatte, sagen wir mal, einen Unfall“, antwortete Hal Metzger vom Gesundheitsamt. „Wir wissen nicht, ob sich verdorbene Lebensmittel oder gefährliche Drogen in seinem Besitz befinden, aber es scheint so, als habe er sein Gedächtnis verloren“.
„Konserven!“ fiel Maria lakonisch ein. „Nichts als Konserven“.
„Okay, okay“, sagte Hal Metzger, „aber der Konsum von Drogen oder verdorbenen Lebensmitteln ist im Arbeitseinsatz hierzulande verboten. Wir alle haben unsere Werte, die eine Stütze der Gesellschaft sind. Wozu haben wir Schulen besucht, Berufe erlernt – wozu hat man uns beigebracht richtig zu wählen?“
Der andere – Jeremias Weißhut – fiel Metzger ins Wort. „Tut uns leid, aber die Kleine hier müssen wir mitnehmen und auf ihren Geisteszustand hin überprüfen. Es besteht Anlass zur Sorge, denn es könnte sich auch um eine Infektion handeln. Vielleicht hat ihr Ziehvater eine ansteckende Krankheit und sie war in letzter Zeit oft mit ihm zusammen gewesen. Auf sie kommen wir gegebenenfalls zurück. Erlauben sie?!“
Was für eine Frage, dachte Maria. Weißhut hatte Shari auf den Arm genommen und folgte Hal Metzger zu einer schwarzen Limousine, die mit Scheiben versehen war, durch die man zwar von innen hindurch, nicht aber von außen hinein sehen konnte. Sekunden später fielen die Türen der Limousine ins Schloss. Hal Metzger, der den Wagen fuhr, startete und legte ein Tempo vor, das in Maria Hausmeister, geborene Maestro di Casa, gar keinen Zweifel mehr daran aufkommen ließ, daß es ihrem Mann wirklich schlecht ging. Sie unterdrückte ihre Wut und schaute bewußt nicht mehr dem davonrasenden Auto nach. Aus der Jeanstasche zog sie eine zerknitterte Packung Peter-Sauerland, strich sich eine der Zigaretten glatt und zündete sie an.
Leider konnte sie sich denken was mit Sepp los war. Sepp hatte schon immer leichte Symptome geistiger Verwirrung gezeigt. Die Krankheit war gewissermaßen ein Markenzeichen seiner Familie. Sepps Vater war Kunstmaler gewesen und ein guter obendrein. Seine Mutter arbeitete lange Zeit als Putzfrau in einem Gymnasium, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Die Großeltern beider Seiten wurden in den späten sechziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts als Kommunisten verfolgt und nur durch einen gemeinschaftlichen Lottogewinn vor dem Schlimmsten bewahrt. Allesamt waren sie verdammte Idealisten gewesen. Genau wie Sepp.
Wahrscheinlich hatte er einfach wieder nicht aufgepasst. Und so verhielt es sich tatsächlich. Im Hotelzimmer wurde er nach der Konferenz der bedeutendsten Sexartikelhersteller aus aller Welt von seinen „Träumen“, wie er es nannte, heimgesucht. Maria nannte es „Zwangsvorstellungen“. Immer wenn es um Sex, die ernsteste Sache der Welt, ging, geriet der Trottel ins Phantasieren. Das wußte sie nur zu gut. Sogar beim Akt selbst träumte er. Dabei dachte er gar nicht an Sex, wenigstens nicht hauptsächlich. Er dachte darüber nach, was er für eine Bedeutung er für uns hatte und welche Bedeutung er eines Tages für uns haben könnte. Meist wußte er dann nicht mehr so richtig, was er gerade tat. Selbstverständlich wollte er sich und seine Partnerin aufrichtig befriedigen, aber sein Wille erschlaffte ungewollt in ihrem Schoß – der absoluten Konzentration beraubt.
Maria Hausmeister nickte und inhalierte einen weiteren Zug. Günter Dödel, der Chef des Komitees, gleichzeitig Sepps Arbeitgeber, der einen Betrieb zur Herstellung von Neunschwänzigen Katzen - unerlässliche Accessoires für die beliebten SM-Parties - leitete, hatte sich bestimmt nicht mal die Frage gestellt, warum Sepp nach der Konferenz nicht zum abendlichen Stammtisch der Konferenzteilnehmer, mit anschließendem, vergnüglichen Besuch in einem Domina-Studio, erschienen war. Er ahnte ja nicht, wie schnell sich die Gedanken seines leitenden Angestellten ( Sepp sagte immer „leidenden“ Angestellten ) im Netz seiner absurden Vorstellungen verstricken konnten. Und er bemerkte auch nicht, wie verkrampft Josef Hausmeister dann dasaß – die Bilder einer nicht wahr werden wollenden, paradiesischen Zukunft vor Augen. Dabei musste es dann passiert sein. Ohne große Mühe konnte sich Maria ihren Gatten vorstellen, wie er sich, mit Schaum vor dem Mund, auf dem Fußboden wälzte. Ganz in Gedanken an eine in sich selbst verlorene Frau mit erotischer Ausstrahlung, der es genügte sich die Liebkosungen von einem oder mehreren Männern gefallen zu lassen und dabei von Höhepunkt zu Höhepunkt eilte. In diesem Zustand mußten sie ihn gefunden haben. Wer hätte da nicht die Sanitäter gerufen? Später, nach der Blutuntersuchung, hatten sie dann unweigerlich auf eine Vergiftung unbekannter Art geschlossen und das Gesundheitsamt alarmiert.
(c) Sur_real