Long Wings
Er hatte sich sofort in sie verliebt. Immer wenn er morgens seinen Kaffee in der kleinen Bar am Hauptplatz der Stadt nahm, lief sie mit schnellen Schritten vorbei – schwingender Rock, schwarzes Haar und ein schwach machendes Lächeln.Irgendwann war er ihr unauffällig gefolgt und hatte sie im Schuhladen verschwinden sehen.
Zuhause hatte er dann seine Schuhe betrachtet – ein neues Paar war durchaus angebracht. Am nächsten Tag hatte er mit klopfendem Herzen
ihr Reich betreten und Paar schöne schwarze Schuhe gekauft.
Monate später sah er sie an einem Sommerabend am Brunnen stehen – wartend, mit einer Hand im Wasser spielend. Als er gerade genug Mut gesammelt hatte, um zu ihr zu laufen und sie anzusprechen, sah er, wie sie die Arme ausbreitete und einem schönen jungen Mann um den Hals fiel.
Da war an seinem Tisch sitzen geblieben und hatte die beiden mit seinem Blick verfolgt, bis sie Hand in Hand um die Ecke verschwunden waren.
Jedes Jahr kaufte er einen Schuh bei ihr. Er freute sich schon Wochen vorher auf den Tag. Dann genoss er, wie sie ihn begrüßte, mehr und mehr wie einen guten Bekannten.
Er wartete auf das Blitzen in ihren Augen, wenn sie ihm ein die neuen Modelle präsentierte. Er gab sich wählerisch, um sie ein wenig länger erzählen zu lassen und den Kauf hinaus zu zögern.
Sie half ihm in die neuen Schuhe und umfasste dabei seine Knöchel, um den Fuß fest in die Ferse zu setzen. Sie tat das schnell und geübt wie eine Mutter - dennoch durchschauderte es ihn dabei und er musste sich beherrschen nicht aufzustöhnen. Dann schnürte sie die Schuhe mit kräftigen Zügen und bat ihn aufzustehen. Mit festem Griff prüfte sie rund um seinen Fuß, ob der Schuh gut saß – keine Spannung entging ihr und kein Luftloch.
Sie bat ihn, ein wenig herumzugehen und verfolgte seine Schritte mit prüfendem Blick. Erst, wenn sie keine Fehler mehr erkennen konnte, sah sie ihn erwartungsvoll an. Dann, erst dann, wollte sie sehen und hören, wie wohl er sich fühlte. Wie er den Schuhen im Spiegel zulächelte, wie er prüfend hin und her wippte, um sie dann anzulächeln und zu sagen: Wunderbar!
Dann breitete sich ein Lächeln voll Triumph auf ihrem Gesicht aus, in dem er versank.
Sie hatte ihm für seine empfindlichen Füße das weiche Pferdeleder empfohlen. Es war ein wenig teurer als das übliche Kalbleder, doch er hätte diese Schuhe schon deswegen gekauft, wie sie das Wort „cordovan“ aussprach. Diese Schuhe gab es außer in schwarz auch in einem dunklen Blaurot, einer Farbe wie geronnenes Blut oder der Haut einer Aubergine.
Sie hatte ihm genau erklärt, wie er die Schuhe pflegen muss. Dabei hatte sein Blick abwechselnd an ihren Lippen oder an ihren Händen gehangen. Jeden Abend zog er seine Schuhe auf Spanner und dachte dabei an sie.
Sonntags cremte er alle Schuhe mit einer öligen Emulsion ein und polierte das Leder mit einer weichen Ziegenhaarbürste so lange, bis es satt glänzte. Danach streichelte er sanft und zufrieden über das pralle Leder. Auch wenn die Schuhe Gehfalten hatten und man ihnen den Dienst ansah, den sie ihm über die Jahre geleistete hatten, liebte er sie wie am ersten Tag.
Nun saß er wieder im Stuhl und sie hockte sich auf den Schemel vor ihm. Sie öffnete den Karton, in dem ein neues Modell lag, das sie ihm unbedingt zeigen wollte. Er betrachtete ihre Hände, wie sie die Schnürsenkel durch die spröden Löcher zog.
Ihre Hände waren alt geworden und die Knöchel vom vielen Schnüren dick. So wie seine Füße im Lauf der Jahre ein wenig breiter geworden waren.
Sie hielt ihm den neuen Schuh entgegen, damit er ihn betrachten konnte, bevor sie ihn anzog.
Er war mit einem feinen Lochmuster verziert und eine schmale Zackenleiste verlief vom Vorderfuß bis zur Ferse.
„Er heißt „long wing“, sagte sie lachend. „Sie werden darauf gehen wie auf Flügeln.“
Dann nahm sie seine bestrumpften Füße und setzte sie in die Schuhe.
Er schloss die Augen.
Long Wings – die langen Schwingen, auf denen seit zwanzig Jahren seine Zuneigung um sie herum flatterte.
Keine Frage, dass er auch diesen Schuh kaufte.
© tangocleo 2012