Fünf
Sie hat tatsächlich heute noch nicht geweint. Ich habe ihr alle Emotionen genommen. Sie isst, trinkt, geht hin- und wieder aufs Klo um zu pinkeln und sie sieht fern. Sie funktioniert, doch sie fühlt nichts. Nichts mehr. Ein Glück, dass er heute noch nicht angerufen hat! Er würde sie mir wieder entreißen! Er bringt immer alles durcheinander! Sie würde wieder fühlen, wie sie es immer tut, wenn er mit ihr spricht.
Ich bin wütend auf ihn! Gestern mussten wir alle um sie kämpfen und haben sie fast verloren! Sie glaubte schon wahnsinnig zu werden!
Die halbe Nacht hatte sie nicht wirklich geschlafen, mit rot geweinten Augen ist sie aufgewacht. Wusste nicht was ihr geschah. Den ganzen Morgen hatte sie immer wieder geweint. Wir haben gestritten, heftig, laut, Stunde um Stunde, um sie gekämpft. Nichts haben wir erreicht!
Dann rief er an. Sie starrte den Hörer an und das Schweigen lies nicht zu, dass sie mit ihm redete. Sie umklammerte den Hörer, die Worte lagen auf ihren Lippen, sie würgte beinahe, Tränen liefen wie Sturzbäche an ihren Wangen entlang, ihr Hemdchen klebte schon. Schließlich, nachdem sie bald eine viertel Stunde nur geschwiegen hatte, sagte er, wenn sie nichts sagen würde, dann solle sie ihn später anrufen, wenn sie mit ihn reden wolle. Da brach es aus ihr heraus. Sie schluchzte, unzusammenhängende Worte, ertrug es kaum, was sie fühlte. Er sagte, er würde sofort kommen! Mit letzter Kraft hauchte sie ein „Ja.“ Dann verstummte sie erneut. Sie wollte noch etwas sagen, doch das Schweigen lies es nicht zu.
Als er eintraf nahm er sie in seine Arme, hielt sie, lies sie weinen. Sie war schwach, kroch wieder zurück in ihr Bett, legte den Kopf auf das feuchte, tränennasse Kissen, zog den Bettdeckenzipfel bis zu ihren Lippen und wartete, wartete auf ihn. Bis er sich neben sie legte, sie in den Arm nahm. Er, der nach nichts roch, selbst wenn er schwitzte nach nichts anderem duftete, außer dem Waschmittel, mit dem er seine Kleidung wusch. Sie liebte diesen Duft, es erinnerte sie an irgendetwas ... sie wusste nicht an was. Doch immer dann fühlte sich beschützt, beruhigte sich.
Er nimmt sie mir weg! Manchmal glaubt sie beinahe, sie braucht mich nicht, dann wird sie übermütig. Fast bin ich froh, wenn sie wieder einmal unterschiedlicher Meinung sind und er einen „Knopf“ drückt. Dann bin ich wieder da! Ich ziehe sie aus dem Geschehen, lasse sie vergessen! Und ich bin gut darin! Manchmal braucht es nur Sekunden sie zu retten!
Doch jetzt gibt es ihn, er hat etwas Magisches, sagt sie. Sie muss sich nur in seinen Arm legen und sie vergisst. Sie vergisst den Schmerz. Dann wird sie ganz weich. Sie hat ihm schon wieder ein Geheimnis verraten. Oft fragt er sie, selbst mit einer Kinderstimme: „Wie alt bist du?“ „Fünf ...“ flüstert sie dann und lächelt ihm mit großen Kinderaugen an. Manchmal ist sie auch trotzig, dann klingt das „fünf“ richtig putzig. Dann lächelt auch er. Oft streichelt er ihr über ihre kleinen Hände. Mit seinen großen, riesengroßen Händen streichelt er sie, hält sie in seinen starken Armen bis sie eingeschlafen ist.
Inzwischen sind die beiden so eingespielt, da klappt das sogar am Telefon! Sie krabbelt in ihr Bett und ruft ihn an. Manchmal dauert es kaum 10 Minuten. Sie hört seine Stimme, umarmt das nasch ihm duftende Schlafshirt, das er ihr dagelassen hat, rollt sich ein, wie eine kleine Katze und schon fallen ihre Augen zu. Dann spricht er in dieser leisen sanften Sprache mit ihr. „Du musst die Taste drücken!“ und sie tapst mit ihren kleinen Fingern auf das Telefon, suchend, bis sie oft nur durch Zufall im Dunkeln die richtige Taste trifft. Dann schläft sie ein. Oft gar Traumlos verbringt sie die Nacht, eingehüllt in seine letzten Worte. Ein Ritual. Sie ist in Sicherheit.
Gestern lag sie auch ihn seinem Arm, wollte ihm wieder etwas verraten, doch das Schweigen hat es nicht zugelassen. Als er fragte, wie alt sie sei, antwortete sie „Ich weiß nicht!“ um dann wieder zu verstummen. „Warum sagst du nichts?“ fragte er nach einer Weile. Sie starrte an seiner Brust vorbei, an die weiße Wand, als ob sie hindurchsehen könnte. Die Worte waren in ihrem Kopf, aber es kam nichts aus ihr heraus, so sehr sie es auch versuchte. Sie kämpfte erneut, klammerte sich an ihm fest. Sie wollte es ihm sagen! Schließlich mit einem Aufschluchzen brach aus ihr heraus: „Ich darf nicht!“ ihr Kopf dröhnte, ihr Körper vibrierte, „Sonst passiert etwas ganz Schreckliches!“ Er lies sie den Satz wiederholen, verständnislos, und sie tat es ... leise, mit dieser Kinderstimme, die er schon so viele Male gehört hatte.
Er streichelte über ihre Schulter, ihre kleine Hand „Was soll ich nur mit dir machen? Ich weiß nicht, wie ich dir helfen soll!“ flüsterte er, ermattet angesichts des Kampfes den sie führte, hilflosen seinen eigenen Ohnmacht ausgeliefert.
Nach einer unendlich wirkend andauernden Stille wurde ihr Körper von Schluchzen geschüttelt, sie weinte, wie sie noch nie in seiner Gegenwart geweint hatte, wimmerte hilflos wie ein kleines Kind, krallte sich in sein T-Shirt und schluchzte hinein, stopfte es sich sinnlos in den Mund, versuchte damit diese furchtbaren schmerzvollen Laute, die sie von sich gab, zu ersticken, ihr Körper krümmte und wand, drückte sich an ihn. „Mach das es weg geht! Bitte, es soll mich in Ruhe lassen! Ich will reden! Es soll mich reden lassen! Ich halt das nicht mehr aus! Es soll weg gehen ...!“
Sie kämpfte mit Bildern, sie war so nah dran ...! Ich musste eingreifen! Ich fing sie auf, nahm ihr die Erinnerung, den Schmerz, das Leid. Ich beruhigte das weinende Kind, nahm der Kämpferin die ohnmächtige Wut angesichts des Geschehen, schickte das Schweigen zurück in die Tiefen ihres Innersten.
Erdrückte sie an sich. Hilflos dieser Macht ausgeliefert, die sie ergriffen hatte.
„Ich weiß nicht was mit mir los ist!“ ihre Stimme klang wieder erwachsen, doch sie weinte noch immer, verzweifelt über die Dinge, die sie nicht verstand, „Ich dreh noch durch! Werde ich jetzt verrückt? Man wird mich noch einsperren!“
„Du bist nicht verrückt, es ist nur alles zuviel für dich!“
Sekunden später sah sie ihn an und sagte mit dieser Stimme, die ihm am liebsten war „Es ist weg ... es ist endlich weg! Mein Gott, was war das?“
„So schlimm war es noch nie!“ kam es auf seinem Mund.
„Ich bin wieder da ...!“ murmelte sie erschöpft und vergaß im gleichen Moment all das Schreckliche was sie für einen kurzen Moment gesehen hatte ...
Sie braucht mich noch immer!
Wir sind fünf ... und ich pass auf alle auf!