Der Hüter
Vor sich sah er nichts weiter als eine endlose Bergkette, die sich im Horizont verlor, mit dem Himmel eine Verbindung eingehen wollte, schier die Sterne der Nacht zu berühren schien. Tomasin Termesco stand auf dem Pass und betrachtete nicht den Abstieg ins Tal sondern die Ferne Bergkette des Shinzen Gebirges, das sich vor ihm ausbreitete und ihm, wollte er den Weg fortsetzen, keine andere Wahl ließ als weiter auf der Fernstraße des Gebirgslords zu bleiben.Der kalte Wind blies ihm den beinahe kahl geschorenen Kopf und ließ ihn frösteln. Niemals hatte er gedacht, würde er so eine weite Reise antreten. Und wenn er an die Konsequenzen dachte, wurde ihm beinahe übel. Aber er hatte sich geschworen, die Frau seines Herzens zu suchen, auch wenn er nie mehr als einen Blick auf sie erhaschen könnte, wäre es das wert gewesen. Tomasin wusste, dass es ihr ähnlich erging, doch war sie von anderer Rasse, fremdartig und gefährlich, so wie er selbst gefährlich war für sie.
So rückte er seinen Beutel über der Schulter zurecht, nahm den Wanderstab fester in die Hand und machte sich auf den Abstieg. Mit den Sandalen rutschte er über das Geröll bergab, schlitterte auf dem Hintern dahin, bis die Kutte vollends zerschlissen und zerrissen war. Doch auch das störte ihn nicht. Er war als Wanderprediger unterwegs – ein Hüter des Glaubens an das Licht, ein Lichtkämpfer, Magier und Priester war Tomasin und als solcher war ihm die Frau verboten, an die er sein Herz verloren hatte – ein Priester und ein Dämon, das konnte nicht gut gehen, es war als würde man den Tag mit einem Vampir vermählen wollen, sie konnten sich niemals berühren, ohne einander unendliche Schmerzen zu bereiten. Endlich kam er an eine etwas flachere Stelle und das Geröll hörte auf, bot einen besseren Weg, der allerdings noch immer über Felsen und Gesteinsbrocken führte. Während Tomasin wanderte, betete er leise. Er war ein engagierter Priester, jemand, der das Wort des Gottes wörtlich nahm und danach lebte. Nicht einmal die Brüder im Kloster waren vor ihm sicher gewesen, denn er predigte selbst den Prior noch und hatte ihm Vorhaltungen wegen dessen Lebenswandel gemacht. Seiner Ansicht nach war es unvereinbar, Armut zu predigen und den Schutz der Bevölkerung vor Dämonen und anderen Wesen der Dunkelheit, wie Drachen, für sich zu reklamieren und im Notfall zog man sich hinter die schwer geschützten Klostermauern zurück und überließ die Menschen ihrem Schicksal. Tomasin verzog angewidert das Gesicht. Früher war der Orden anders gewesen, viel mehr darauf bedacht, auch nach den Worten, welche sie verbreiteten zu leben. Jetzt war es nur noch eine Farce, eine einzige Lüge, wie der Wanderpriester nie müde wurde, zu betonen. Andere Ordenshäuser mochten besser geführt werden, doch sein Mutterhaus war eine Schande in dieser Hinsicht. Der Mann mittleren Alters schritt weiter aus, schüttelte dabei den Staub aus seiner braunen und nun zerrissenen Kutte, kontrollierte den Riemen der Umhängetasche, dabei betete er ohne Unterlass weiter. Seine Gedanken kreisten unterdessen, suchten sich Wege, um nicht an sie denken zu müssen. Nicht einmal ihren Namen erlaubte er sich ins Bewusstsein dringen zu lassen, so war sie immer nur „sie“ für ihn, die Eine, die Besondere.
Er ging weiter, fühlte sich auf seinem Weg immer einsamer und die Einsamkeit wuchs mit jedem Schritt den er tat, verlangsamte sein Denken und ohne es zu merken, beendete er sein Gebet. Stumm schritt er aus, immer weiter ins Niemandsland des Gebirgslords. Kahl war es hier, weder Bäume noch Sträucher wuchsen in den windgeschützten Nischen. Das Land war bar jeden Wassers. Woher mochte dieser Wassermangel kommen? Er überlegte hin und her, dabei stolperte er über Geröll. Spitze Steine durchbohrten seine Schuhsohlen, sodass sie bald völlig durchlöchert waren. Doch er ging weiter in der sengenden Hitze des Tages, denn die Sonne brannte unablässig herab und der stete Wind trocknete das Land und den Mann nur noch mehr aus.
Mittlerweile fühlte er seinen Körper nicht mehr, sein Hirn fühlte sich an, wie eine amorphe Masse, welche die Knochen um Auslass bat und beständig dagegen hämmerte, was seine Pein noch verschlimmerte. Nicht einmal mehr zum Denken war er fähig. Tomasin stolperte weiter, merkte nicht, wie er das nächste Tal erreichte und den Aufstieg begann.
So ging es tagelang dahin und er wurde schwächer, immer schwächer durch den Mangel an Wasser und Schlaf. Seit er das Tal durchwandert und den neuerlichen Aufstieg begonnen hatte, quälten ihn nachts alptraumhafte Gestalten, die sich seines Körpers bemächtigen wollten. So war er gezwungen, wach zu bleiben, um ein wenig Schutz für seinen Verstand aufrecht zu erhalten, der ohnedies langsam auf Abwege geriet und ihm Dinge suggerierte, die nicht da waren.
Doch noch hielt er seinen Ängsten stand, widerstand auch den Verlockungen der nächtlichen Dämonen und marschierte unentwegt weiter über den nächsten Pass. Dann sah er das letzte Tal vor sich. Er wusste, dass es hier fruchtbar sein sollte, doch nichts dergleichen war zu sehen, dürre abgestorbene Bäume säumten ein ausgetrocknetes Flussbett. Braune Flächen verdorrten Grases konnte er von der Höhe aus erkennen und er fragte sich abermals was hier wohl geschehen sein mochte. Der Wanderpriester ging weiter. Stolperte und fiel der Länge nach hin. Lange Minuten blieb er so liegen, weinte stumm und tränenlos in sich hinein bevor er sich endlich aufrappelte und da sah er es, den Grund für die Dürre …
Voll Trauer änderte er die Richtung und ging auf einen Durchbruch in den Felsen zu. Hier stand sie und lächelte ihn an.
„Ich wusste, du würdest hierher finden, Tomasin“, sagte sie mit ihrer feinen, beinahe herzlich klingenden Stimme. Der Priester schaute die Frau an, die er liebte und er wurde immer trauriger dabei. Die Schultern fielen ihm nach vorne, er bot ein Bild des Jammers. Sie lachte. Das brachte den Priester dazu, sich aufzurichten und seine Macht in sich zu sammeln. Er wusste, dass er sie vernichten konnte, aber ob er es wollte, das war die andere Frage. Sie setzte wohl auf Letzteres und meinte wohl, er würde überlaufen, sich ihr ergeben, ihrem Charme nachgeben. Doch so funktionierte seine Liebe nicht, dachte er zumindest. „Warum?“, fragte er nur. Vergeblich wartete er auf Antwort.
Sie stand nur da in ihrer ganzen Schönheit und starrte ihn aus gelben Augen an. Ob es Liebe, Hass oder Gleichgültigkeit war, die ihm entgegenschlug, konnte er nicht sagen. Vielleicht war es auch eine Mischung aus allen Dreien und noch etwas mehr. Seufzend nahm er seinen Beutel ab und legte ihn zu Boden. Den Wanderstab fester greifend, ging er weiter auf sie zu. „Warum?“, wiederholte er seine Frage. Abermals hielt er an und wartete. Ebenso vergebens wie vor einigen Minuten, die sich für ihn wie Stunden anfühlten. Der Priester fragte sich, ob sie die Zeit angehalten hatte oder er womöglich aus der Zeitrechnung getreten war. Auch das lag im Bereich es Möglichen.
Diesmal antwortete sie, doch nicht mit Worten und der Schreck bohrte sich in ihn hinein wie ein Pfeil. „Was ich nicht haben kann, sollt auch ihr Menschen nicht haben.“ Dabei hob sie ihre Arme, die so weiß wie Alabaster waren und versuchte Tomasin erstarren zu lassen. „So nicht, meine Liebe“, entgegnete er mild und tat einen Schritt zur Seite. Nur ein Schritt und es war so, als verließe er sich selbst und legte viele, viele Tagesmärsche zurück, so mühsam war es, gegen den Zauber der Dämonin anzukämpfen. Einen dreckigen Fluch ausstoßend, änderte sie die Gestalt und zeigte sich in ihrer dämonischen Gestalt. Ihr Kopf wurde zu einer knochigen Erscheinung, ihre Hände zu furchterregenden Klauen, von denen ein Finger auf Tomasin zeigte, der abermals einen Schritt zur Seite tat und sich dem Dämon näherte. „Du kannst mich nicht besiegen“, sagte er nur indem er eine Schutzaura aufbaute, die sich wie eine Rüstung um ihn legte.
Dann begann der Kampf. Weniger mit körperlicher Gewalt wurde gekämpft als mit dem Willen. Tomasin fühlte, wie er schwächer wurde, doch durfte er nichts davon zu erkennen geben. Noch war sie in dem Glauben, sie würde obsiegen, denn sie schlug nun auch mit ihren Klauen auf ihn ein, sodass Funken flogen und ihre verdorrte Haut, Feuer fing. „Willst du wirklich verbrennen?“, fragte er atemlos. Da hob sie ihn hoch und warf ihn wie ein lästiges Insekt gegen die nächste Felswand. Einen Moment blieb er reglos liegen. Sein Stab lag zerbrochen neben ihm. Mühsam rappelte er sich auf, lehnte sich gegen den Felsen und er hatte das Gefühl, als würde das geschundene Land ihm Kraft geben, weiter zu machen.
Er hüllte sich in Feuer und ging auf die Knochengestalt mit den rotglühenden Augen zu. Ein immer helleres Licht schien von ihm auszugehen, als er weiterging. Der Dämon hob seine Pranken und versuchte sein Gesicht zu schützen, doch Tomasin bot nun alles an Kraft auf, die er hatte. „Vollende es!“, kreischte sie mit schmerzvoll verzerrter Stimme, welche Tomasin an die Frau erinnerte, in die er sich verliebt hatte. „Vollende es bevor ich dich vernichte. Schnell!“ Noch einmal sammelte er alle Energie in sich, derer er habhaft werden konnte und verstärkte das Licht, bis das Feuer um ihn in einem blauen Licht zu strahlen begann. Seine Augen drehten sich zurück, zeigten nur noch das Weiße. Langsam begann die Dämonin zu brennen. Ihre Schreie wurden lauter und es zerriss Tomasin beinahe das Herz, als er abermals in das Gesicht blickte, das ihn in seiner Heimat mit s viel Liebe betrachtet hatte. „Stirb, Dämon“, sagte er leise, verstärkte seinen Zauber und in einem letzten Aufheulen ging sie zugrunde, zerfiel zu Staub. Der Priester vermeinte in diesem Schrei ein leises „Danke, Liebster“, zu hören doch konnte das genauso gut, Einbildung sein.
Er fiel vornüber und blieb liegen, verschmolz fast mit den Steinen. Wie lange er so lag, wusste er nicht, doch die Zeit verstrich und er hörte ein leises Tröpfeln. Die Quelle, welche sie belagert hatte, führte wieder Wasser. Hier schlug er sein Lager auf und blieb als Hüter der Quelle, ein Einsiedler, der über die Liebe nachdachte. Manchmal glaubte er, im leisen Murmeln des Wassers, ihre Stimme zu hören und freute sich daran.
(c) Herta 7/2012