Reisebericht Erde 11
Sams anderes Ich lächelte weise und er wußte was das zu bedeuten hatte. Bereitwillig griff er in die Brusttasche seines Jacketts und zog den letzten Bekennerbrief heraus. Der andere nahm ihn und verging mit dem Dokument in den Flammen. Im selben Augenblick ertönte ein schriller Schrei: „Lass das, du Umstürzler!“ Hinter ihm stand, zu voller Größe aufgebaut, Ljubow Turischtschewa, der Überwachungsoffizier! Sam wirbelte erschrocken herum. Er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Ljubov sah ihn aus blitzenden Augen an. Mit ihren kräftigen Händen packte sie ihn wie eine Puppe. Dabei machte sie ein Gesicht als wolle sie ihm den Kragen umdrehen. Doch dann schien sie es sich anders überlegt zu haben. „Ich hasse Phrasen“, sagte sie, ohne daß es besonders böse klang. „Können sie mir beschreiben was sie gerade gesehen haben?“ Unerklärlicherweise fühlte sich Sam zum Scherzen aufgelegt. „Ich kann es ihnen so genau beschreiben, als hätten sie eine Fotografie gesehen“.
Der Überwachungsoffizier zog diese Aussage sogleich in Zweifel, weil sie den Kaspar in eine Kategorie Menschen einstufte, die nicht wussten worüber sie redeten.
„Wie sie sich denken können halte ich nichts von Spekulationen“, warnte sie ihn.
„Im Augenblick spekuliere ich nur über den Ausgang unseres kleinen Rendezvous hier“. Sam war über Gebühr frech geworden. Sekunden später wurde ihm das klar, aber die Folgen hatte er wieder einmal nicht vorausgesehen. Ljubov näherte sich mit ihren Lippen den seinen. Gleich darauf drückte sie Kommissar Gleich einen dicken Kuss auf den Mund – und er ließ brav Ober- und Unterkiefer auseinandergehen. Ihrem Ansturm war Tür und Tor geöffnet. Mit der wilden Energie ihrer rauen Katzenzunge entjungferte sie geradezu Kaspar ( Sam ) Gleichs bislang relativ unschuldige Mundhöhle. Im Hintergrund donnerte es. Ein mächtiger Blitz zuckte über den Nachthimmel. Ein bunter Blitz!? Ganz da oben, auf dem brennenden Hügel musste ein Munitionsdepot explodiert sein. Der Gesang durch die Luft fliegender, größerer Wellblechteile kündigte eine gewaltige Oper der Vernichtung an, die zu dem Naturschauspiel des Gewitters in Wettstreit trat. Sozusagen als Ouvertüre ging zuerst die Gefechtsfeldbeleuchtung hoch. Etwa 100 weiße, mindestens aber 25 rote und ebenso viele grüne Leuchtkugeln stiegen auf und schwebten majestätisch zur Erde nieder. Dabei erhellten sie schamlos die mit ganzer Wucht vorgetragene Offensive des Überwachungsoffiziers in den Diensten des PÜV. Dann bebte die Erde. Schwere Haubitzenmunition ging hoch, zusammen mit Tretminen. Hochgeschleuderte Handgranaten verwandelten sich, im Rahmen des großen, infernalischen Konzerts in kleine, reizvolle Feuerbälle.
„Verdammt, wer hat denn diese Katastrophe angezettelt?“ wetterte Sam. Und: „Wo ist Zuffi? Ich habe ihn da rein geschickt“.
Ein kaltes Lächeln spielte um Ljubovs schmale Lippen, bevor sie Sam zu einem von ihr angeforderten Taxi schob. „Hier können wir nicht bleiben“, sagte sie und kitzelte ihn mit der Zunge im Ohr.
Inspektor Greifzu hatte die Fährte der Brandstifter aufgenommen. Das Gewitter war noch einige Kilometer weit weg, aber bereits aus dieser Entfernung schien spürbar, welch gewaltige Entladungen da vor sich gingen. „Komm“, sagte er zu sich selbst - seine Angst überspielend – „sicher fängt es bald an zu regnen, also sieh zu, Ranger, daß du zur Verhaftung schreitest. Wie Peitschenschläge klang jetzt der Donner. Der Inspektor ging auf eine brennende Hütte zu – und erstarrte dann plötzlich, mitten in der Bewegung. Ein unwirkliches Leuchten schien den ganzen Bezirk, in dem er sich jetzt aufhielt zu umgeben. Der wolkenverhangene Himmel schimmerte direkt über ihm so gespenstisch, als wenn der Teil nicht wirklich zu dieser Welt gehören würde. Zuffi stand ungläubig da, den Mund sperrangelweit offen, und wartete ab was weiter geschehen würde. Das Ganze dauerte nicht länger als ein paar Augenblicke, dann war der geheimnisvolle Schimmer wieder verschwunden. Ein weiterer Blitz zuckte und der Donner riss Zuffis Körper aus der Erstarrung. Die Erstarrung seines Geistes löste sich ebenfalls. Er hatte eine Idee: Wer immer da oben Brand um Brand legte, würde wahrscheinlich auch wieder zurückkommen, um sich mit den vielen Schaulustigen da unten an seinem Werk zu erfreuen. Das war tatsächlich die richtige Eingebung – sie rettete ihm das Leben! Zuffi ging nicht mehr weiter. An einem kokeligen Stück Holz zündete er eine Zigarette an und betrachtete versonnen die Tanzgruppen, die jetzt langsam den Hügel herauf kamen. Dann hörte er ein Geräusch. Es kam aus der anderen Richtung: mitten aus dem Inferno.
Zwei Gestalten in Asbestanzügen näherten sich. „Was sollen wir jetzt noch unternehmen, Jacky?“ fragte eine sonore Männerstimme. „Die Party ist ein voller Erfolg“, antwortete die andere, die sich dunkel und etwas unheimlich anhörte. Zuffi hatte eine solche Stimme einmal in dem Film „Die Lebenden Leichen“ gehört. Der verkohlte Balken, auf dem er Platz genommen hatte, knirschte. Aus seinem Innern waren „Totenuhren“ zu hören, eine Klopfkäferart, die ihren Beinamen durch das tickende Geräusch erhielt, das sie verursachen. Wie konnten sie in dem schwarzen Holz überlebt haben?
Langsam kamen die Tanzgruppen näher. Ihr Trommeln mischte sich in die Töne der Totenuhren und verschmolz mit ihnen zu einer weltfremden Melodie. Zuffi entdeckte, daß sich nun auch Eingeborene der Polonaise aus Capoiden und Asmat angeschlossen hatten. Das machte ihm Mut.
Das Feuer schien vor dem Anrücken der Tänzer zurückzuweichen. Die Stille, die hypnotische Stille wurde dem Inspektor bewußt. Unerklärlicherweise präsentierte sich der Beobachtungsstandpunkt von Greifzu als ein Ort der Ruhe. Der Donner des näher rückenden Gewitters machte sich hier ganz verhalten aus. Nur stark gedämpfte Laute drangen in den Kreis der beiden Asbestanzugträger und ihres Verfolgers. Der Inspektor begriff warum er die Totenuhren überhaupt gehört hatte.
Hatte die Geschichte ein ganz spezielles Vakuum geschaffen, in das sie die Ergreifung zweier Feuerteufel einschloss? Auf einmal krachte es wie von einer Explosion. Der Blitz schlug genau in die Glocke des Vakuums ein, wo sich noch vor Sekunden eine historische Sternstunde abzuzeichnen begann. Die beiden Männer in ihren feuersicheren Anzügen leuchteten gleichzeitig, gleißend hell wie Engel auf – und waren im selbem Moment verschwunden. Nein – etwa 20 m weiter links tauchten sie wieder auf, wie eine Fatahmorgana aus flimmerndem Licht. Einen Wimpernschlag später standen sie – von den strahlenden Antennen der Blitzes, der sie traf, gekrönt – 50 m rechts unten, in Richtung der Tänzer. Ihr Verschwinden und Wiederauftauchen wiederholte sich insgesamt ca. 13 mal, wie eine nacheinander aufblinkende Lichterkette, den ganzen Hügel entlang. Was für eine Apotheose!
Unten heulten die Tänzer vor Freude auf. Ihr Gott, den sie so inbrünstig beschworen hatten, war ihnen erschienen. So sah es jedenfalls Zuffi, der mit weit offenem Mund in der vom Rauch dampfenden Landschaft stand, die einmal ein quirliger Slum gewesen war. Der Blitz hatte ganz in seiner Nähe eingeschlagen. Er hatte ihm die Haare versengt und ihm durch den ungeheueren Schock den Verstand geraubt. Zuffi lachte und weinte gleichzeitig. In wirre Selbstgespräche vertieft ging er den Hügel hinunter, der bunten Polonaise entgegen. Dort reihte er sich ein und tanzte mit um die Götter zu beschwören, die seiner Meinung nach, bereits erschienen waren. Dann explodierte das geheime Munitionsdepot. Die Erschütterungen durchzogen den Hügel, wie eine Brandung elektrischer Wellen und verursachten in Inspektor Greifzus Beinen ein wohltuendes, lustiges Kribbeln.
„Ich werde von heute an, deine Königin sein“, sagte Ljubov, so sanft sie konnte und küsste Sam zärtlich auf die Stirn. Das Taxi hatte vor ihrem Hotel in der Nachtkerzenstraße angehalten.
Der Kommissar unternahm einen letzten Rettungsversuch, denn er ahnte nicht bloß, daß er dieser Frau nicht gewachsen war. „Zu fragen wie viele Sterne dieses Hotel hat, ist wohl nicht angebracht?“ meinte er schüchtern. Seine einzige Chance bestand darin, die hohe Staatsbeamtin so lange zu nerven bis sie ihn wieder in Ruhe arbeiten ließ. Ansonsten hatte er alle ihre Vorschläge, die ausschließlich seiner Überwachung dienten, als Befehle zu respektieren.
„Seien wir froh, daß wir nicht im Zelt übernachten müssen“, erwiderte der weibliche Überwachungsoffizier. Damit schürte Ljubov Sams schlimmste Befürchtungen: Würde sie das, nun mit Sicherheit folgende, Verhör so gestalten, daß es einer Psychofolter gleichkam? Dafür brauchte sie ihm nur Schlaf und Essen zu entziehen.
Sie passierten den Eingang. Hinter dem Tresen der Rezeption saß ein Mann in den Neunzigern. Er trug eine grüne Augenklappe und machte ein grimmiges Gesicht. Als er die Turischtschewa sah, stand er auf und musterte sie mit seinem einen intakten Auge eingehend. „Sie sind sicher diese wichtige Abgesandte des Psychologischen Uberwachungs-Vereins in Peking“, krächzte er.
„Erraten“, sagte Ljubov und reichte ihm die Hand. „Kann ich den Zimmerschlüssel haben?“
„Einen Moment bitte. Welcher ist es denn? Ich bin zwar der Besitzer des Hotels, aber ich kann mir keine Angestellten leisten. Meine Frau und ich müssen die ganze Arbeit alleine machen“.
„Nr. 31“.
Er nahm den Schlüssel ab und legte ihn auf den Tresen. „Wenn sie geweckt werden wollen, dann sagen sie mir bitte wann. Aber ich schätze das wird nicht nötig sein“. Er zwinkerte Sam verschwörerisch zu.
Ljubov Turischtschewas Zimmer wirkte verwahrlost. Überall lagen ihre Sachen herum. Hier musste lange nicht mehr aufgeräumt worden sein. In einem der Fenster fehlte eine Scheibe und irgendwo wurde ein Fensterladen, von dem frischen Wind, der jetzt, kurz vor der Ankunft des Unwetters, von den Hügeln herab blies, geräuschvoll hin- und hergeworfen. Die Einrichtung wirkte schäbig. Sie stammte noch aus dem vorigen Jahrhundert und musste so aus den Jahren um 1960 sein. Aber schon damals dürfte sie nicht viel gekostet haben. Ganz im Gegensatz zu der üppigen Kunstsammlung, die Sam schon im Foyer aufgefallen war. Bei allen Exponaten handelte es sich durchweg um Werke der sogenannten „Ganz Neuen Superwilden“, einer Künstlergruppe um den Bärlinger Kunstprofessor Ars Hole. Alles sündhaft teure Stücke, die sich meist durch großzügig aufgetragenes Malmaterial auszeichneten. Spuren- und Zeichenhafte Elemente in braun, Wülste und Striche in braun, die meist „Balance“ oder „Transmission1,2,3“ usw. hießen.
Sam vertiefte sich gerade in ein solches Kunstwerk – das einzige in Ljubovs Zimmer – als ihm ernstlich schlecht wurde. Das Gift! Im Eifer des Gefechts hatte Kaspar Gleich die ominöse Ankündigung, daß er sich innerhalb von 24 Stunden auflösen werde, vergessen. Er ließ sich nach hinten fallen und landete auf dem Bett. Fast im selben Augenblick war der Überwachungsoffizier über ihm. „Spürst du, daß die Luft zwischen uns förmlich magnetisch aufgeladen ist?“ hauchte sie heiser. Ich spüre überhaupt keine Luft mehr zwischen uns, dachte Sam. Die Tursichtschewa mochte gut und gerne an die 95 kg wiegen. Sie glotze ihm tief in die Augen und wenige Augenaufschläge später kehrte ihre alte Vertrautheit zurück: Sie steckte ihm ihre raue Katzenzunge in den Mund! Sam schluckte, während ihre Hand über seine Haare strich. „Mellm Kallpal“ ( Mein Kaspar ), lallte das stämmige Weib undeutlich, weil sie hauptsächlich damit beschäftigt war Sams Gebiss zu erforschen. Für ihre Verhältnisse verhielt sich Ljubov noch zurückhaltend, aber bald gebärdete sie sich leidenschaftlicher. „Ich habe mich so lange nach dir gesehnt und versuchte dich ganz aus meinem Kopf zu vertreiben“, gestand sie. „Aber das ist mir nie ganz gelungen“. Jetzt brachen ihre Gefühle stürmisch und ungestüm aus ihr hervor. Sie überwältigten Sam und rissen ihn ein Stück mit auf den Weg der zügellosen Begierde, die von seinem Widerpart Besitz ergriffen hatte – wie er glaubte. Er war sogar ein bisschen gespannt, was er von dieser starken Frau, die es – wie ihr Ruf besagte – auch in gefährlichen Situationen verstand, einen kühlen Kopf zu bewahren, noch lernen konnte. Seinetwegen war sie nun im Begriff ihren Ruf zu verlieren. Oder täuschte er sich wieder? Aber zuerst verlor Sam die Besinnung. Für einen winzigen Augenblick wurde er durchscheinend. Diesen Eindruck hatte wenigstens Ljubov. Aber nicht lange. Die stahlharte Realistin in ihr siegte sofort über die Einbildung. Sie tätschelte die Wangen des Mannes unter sich und rief: „Kasparchen, Kasparchen, du wirst mir doch jetzt nicht vor Glück ohnmächtig werden. Uns steht zusammen noch eine Menge Spaß bevor“.
(c) Sur_real
Fortsetzung folgt