Die Schlafdiebin
Tagsüber sind an die hundert Menschen um mich, die sie fernhalten. Sie beschützen mich vor ihr, ohne es zu wissen, indem sie mich ansprechen, mich etwas fragen. Ich denke nicht an sie, wenn ich Mails lese oder schreibe, telefoniere, meine Arbeit tue. Aber sie lauert. Sie hält sich immer am Rande meines Blickfeldes, da, wo man sich nicht sicher sein kann, wirklich etwas gesehen zu haben.Drehe ich den Kopf oder bewege die Augen, ist sie auch schon verschwunden und oft glaube ich noch, etwas von ihr davoneilen zu sehen – eine Schulter oder ein wenig von ihren Haaren, die so zum Zausen einladen, dass es mir in den Fingern kribbelt. Manchmal ist es auch eine nackte Ferse, die hinter einer Biegung im Flur sich vom Boden hebt und davonmacht.
Mehrmals am Tag wird das verwinkelte Gebäude, in dem ich arbeite, dadurch zu einem unwirklichen Labyrinth, in dem ich mit einer braunäugigen Cheshire-Katze Verstecken spiele. Chancenlos gegen die nicht fassbare Mitspielerin, martere ich mich selbst in diesem Spiel, das ich nicht gewinnen kann – und doch will ich nicht, dass es aufhört.
Auf dem Weg nach Hause lese ich manchmal, während ich auf die Bahn warte, versuche ein wenig zur Ruhe zu kommen, wähne mich in Sicherheit, versteckt in einer Geschichte, im Papierdickicht. Doch im Nullkommanichts blicke ich auf, sobald ein paar Füße oder schlanke Fesseln über dem Rand des Buches auftauchen, die mich an ihre erinnern. Und schon spüre ich, dass sie mich entdeckt hat.
Zu Hause hält sie der Lärm vom nahen Spielplatz ein wenig auf Abstand. Aber nur ein wenig, denn jetzt muss ich nicht mehr auf andere Menschen reagieren, bin allein. Das nutzt sie aus, um mich – in meiner Erinnerung – zu berühren. Nach einer Weile merke ich, dass ich vor mich hin lächle und währenddessen die Nudeln auf der Gabel kalt geworden sind. Ich rufe mich zur Ordnung. Sie ist nicht hier.
Zügig erledige ich die Hausarbeit, bereite alles für morgen vor, damit ich nur aus dem Bett an den Frühstückstisch wanken und den Knopf am Wasserkocher drücken muss.
Nun wird es ernst. Waschen, Zähne putzen … wie lange schrubbe ich jetzt schon gedankenverloren auf der selben Stelle herum? Auch hätte ich nicht gedacht, dass man beim Zähneputzen lächeln kann. Sie ist wieder da. Sie zeigt sich nicht aber ich merke, dass sie in der Nähe ist.
Schlafen. Das muss einfach sein, und zwar jetzt, damit ich morgen bei der Arbeit nicht herumhänge wie ein nasses Handtuch auf der Leine.
Das Licht ist aus. Darauf hat sie gewartet. Sie ist wieder da. Vollständig. Mit ihrer Wärme, ihrer Weichheit, ihrer Festigkeit, ihrer Präsenz, ihrem Geruch …
Augen auf, Augen zu, das macht keinen Unterschied. Genausogut könnte das Licht an sein. Ob Schwärze im Zimmer oder hinter geschlossenen Lidern – egal. Ich wälze mich herum, werde auf der linken Seite nicht schläfriger als auf der rechten. Auf dem Rücken und auf dem Bauch natürlich auch nicht.
Muss diese verdammte Decke sich so weich und warm anfühlen? Meine Pyjamahose ist zum Zirkuszelt geworden, in dem lautstark nach Zugabe gerufen wird. Ich weiß, dass es nicht wirklich hilft, denn diese Sehnsucht kann nicht allein durch den Körper gestillt werden – und schon gar nicht nur durch den eigenen.
Aber bevor ich mich noch länger wie ein rolliger Kater schlaflos hin- und herwälze (können Kater überhaupt rollig sein? Ich glaube nicht, aber so fühle ich mich), gibt es noch eine Spätvorstellung – und jemand hat Freude daran, sie nicht zu schnell enden zu lassen.
Nachdem dieses luftige, leidende Nicht-Leiden doch noch einer ausreichenden Bettschwere Platz gemacht hat, kann ich endlich – und wie immer eigentlich viel zu spät – schlafen.
Bis morgen.