Reisebericht Erde 12
Kaspar Gleich kam widerwillig zu sich, denn er hatte etwas Schönes geträumt. Ein wunderbares, fremdes Wesen hatte ihm aus einem Nebelschleier zugeflüstert, er solle sich nicht grämen, sondern die Reise für wenige weitere Stunden fortsetzen. Unverzichtbares käme noch auf ihn zu. Einmal mehr ergab er sich in sein Schicksal. Nur das Schicksal ergab sich nicht in ein Wohlgefallen. Obwohl sich der weibliche Überwachungsoffizier die größte Mühe gab, wollte zunächst einfach keine Stimmung aufkommen. Doch das Glück des Tüchtigen beseitigte schließlich noch alle Schwierigkeiten. Dem bezaubernden Süßholzgeraspel einer unbekleideten Frau, ihre Haut auf der seinen, konnte Sam nicht ewig widerstehen. Und als das heiße Geschöpf endlich auf ihm saß ließ er sich gehen.
„Komm, du Botschafter von Ichweißnichtwas, gib mir was ich brauche – und flüstere mir ganz nebenbei, was ihr, du und deine Mitverschwörer, vorhabt“. So begann das Verhör. Aber beim letzten Wort wurde der Hauptkommissar wieder durchsichtig. Seine Haut verwandelte sich in eine Membran aus Zellophan. Muskeln und sogar Knochen schienen durch. Grauenhaft groß lagen seine Augäpfel in ihren Höhlen und starrten die reitende Amazone an. Dann flimmerte Sams gesamte Gestalt wie eine schlechte Fernsehübertragung.
„Wie machst du das?“ brüllte Ljubov. „Oder bin ich jetzt auch verrückt geworden?“ Seit der Ankündigung von Sam Gleichs Abreise aus der realen Welt dieses Kontinuums waren 8 Stunden vergangen. 16 standen noch aus.
Die reitende Amazone mit den breiten Schultern und den kleinen Brüsten verschwand aus Sams Gesichtsfeld. An ihrer Stelle tauchte ein Strudel aus Bildern auf, in deren Mitte Gaya, die Mutter Erde, rasend schnell kleiner wurde. Am Äquator färbte sich etwas rot. Ein Riss bildete sich, der Riß öffnete sich, Gaya verschwand und der Riss sagte, zu einem Mund geworden: „Dir gefällt wohl nicht was wir hier treiben, was? Bist Besseres gewöhnt, wie?“
Kaspar Gleich, der begnadete Ermittler, schnappte nach Luft. Wie lautete seine neueste Erkenntnis? „Wer sich selbst nicht leben kann, der kann auch keinen andern überzeugend leben - also, spiel dir nichts vor, denn deine Aufgabe ist es so viel wie möglich zu begreifen“. Dieser Gedanke gab ihm Kraft und er versuchte Ljubovs Stöße zu erwidern. Gleichzeitig meinte er trocken: „Ich kann dir nichts verraten, was euch weiterhelfen würde, weil ich im Grunde nichts Genaues weiß“.
Mit dem letzten Blitzschlag des nun herangekommenen Unwetters setzte wolkenbruchartiger Regen ein. Und mit dem Regen kam Ljubov! Sie zelebrierte den ungewöhnlichsten Orgasmus, den Sam je selbst erlebt oder im Kino gesehen hatte. Zuerst war ihr beschleunigter Atem zu einem gurgelnden Keuchen angeschwollen, das sich eine lange Minute später in einem ekstatischen Schrei entlud. Und mit dem Schrei kamen die Tränen. Unter heftigen Zuckungen quoll der ganze Hass, die ganze Abscheu einer enttäuschten Frau vor sich ( ihrem Versagen ) und der Welt aus dem einzig Schönen, das Ljubov Turischtschewa, die Sonderbeauftragte des PÜV, vorzuweisen hatte: aus ihren hellblauen Augen. Wahre Ströme der salzigen Flüssigkeit ergossen sich auf die Brust des Kommissars, denn dort lag der Kopf seiner Amazone, die völlig zusammengebrochen war. Ihr Kampfgeist hatte sie verlassen. Ihre ganze Autorität war entmachtet. Zeigte sie jetzt ihr wahres Gesicht? „Verzeih mir“, würgte sie hervor. „Iihich kann nichts dafür“, jammerte sie. „Morgen bekomme ich meine Periode!“ schrie sie. Und: „Da mache ich immer alles falsch“.
Der Ermittler von Gottes Gnade sah sich schuldbewusst um. „Was kann ich nur für dich tun?“ erkundigte er sich, denn er war sich absolut sicher, auch irgendetwas zu Ljubovs depressivem Anfall beigetragen zu haben. Womöglich traf ihn sogar die ganze Schuld.
„Nichts“, schluchzte sie. „Du kannst nichts tun. Ich bin selbst schuld. Überhaupt begehe ich nur noch Fehler“.
Ströme von Mitleid überfluteten das sensible Herz des Chefs der Mordkommission von Münchhausen. Er dachte an Murtl, seine resolute und einsilbige Frau. Von ihr kannte er dergleichen nur in Ansätzen. Allerdings hatte Murtl nie Zeit für Gefühlsausbrüche gehabt. Sie war meistens gerade schwanger oder in Not oder beides zusammen gewesen. Ein leichtes Leben führte sie nicht. Der Unterhalt, den sie von Sam für sich und die lieben Kleinen bekam, reichte nur für das Nötigste. Das Zubrot das sie als Nutte verdiente änderte daran nicht viel. Die Freier konnten, des allgemeinen wirtschaftlichen Niedergangs wegen, immer weniger bezahlen. Ihre Geschlechtsgenossin, die momentan mit ihrem Ehemann das Lotterbett hütete, erhielt dagegen jedes Jahr eine Gehaltsaufbesserung. Sie konnte auf eine beeindruckende Karriere verweisen und näherte sich dem Gipfel aller ihrer beruflichen Träume: Sie wollte Weltmoralpräsidentin werden, die oberste Instanz aller Kontrollausschüsse für Partyservice, Funk, Film und Fernsehen. Die besten Voraussetzungen dafür besaß sie seit ihrer Geburt: Ein hohes Maß an schauspielerischer Flexibilität und keinerlei Respekt vor Personalautoritäten – vor Leuten mit glänzendem IQ und vielseitiger Begabung. Jetzt war sie 46 und wenn es ihr gelänge Kaspar Gleich als Rädelsführer einer hochbrisanten subversiven Vereinigung zu entlarven, wäre ihr der Posten so gut wie sicher.
„Es ist sinnlos, mein Gott, es ist sinnlos“, raunte der Hauptkommissar. Seine letzten Ermittlungsergebnisse gefielen ihm absolut nicht. Zumindest waren sie völlig privat: Er musste sich eingestehen überhaupt keinen echten Bezug mehr zur Realität herstellen zu können.
Müde schlüpfte er in seine Klamotten, die zusammen mit der Kleidung dieser eigenartigen Frau einen unordentlichen Haufen bildete. Nach einer Weile hatte er sich aber das Seine zusammengesucht. Je mehr er sich bekleidete, desto schlimmer steigerte sich Ljubov in ihren Anfall hinein, der immer mehr wie der Beginn – oder der wiederholte Ausbruch? – einer schweren psychischen Krankheit aussah. Nach einer kleinen Weile schloss er leise die Türe hinter sich. Er machte sich auf und davon! Als er das Treppenhaus erreicht hatte, hörte einen Schuss. Sie wird sich doch nicht etwa....? fuhr es ihm durch den Kopf. Dann hörte er noch einen Schuss und noch einen. In das Schießen mischten sich schrille Schreie. Kam der Radau von der Straße, bahnte sich dort eine Unruhe an, oder konnte wirklich ein Mensch alleine derart randalieren? Sam, der schon zurückgehen wollte, drehte sich um und entfernte sich mit großen Schritten. Er wählte das Treppenhaus, das offensichtlich zur Galerie umfunktioniert worden war. Dort konnte er noch einmal eine ganze Anzahl brauner Bilder bewundern. Unten schüttelte er den Kopf.
Ein beinahe heiliger Frieden lag über der Stadt – zusammen mit einer schwefelfarbenen Rauchwolke des Großbrandes, der immer noch nicht unter Kontrolle war. Der Tumult auf der Straße hatte sich aufgelöst. Oder hatte es niemals einen gegeben?
Sam ging zu Fuß zu seinem „Verschlag“, wie er sein Appartement nannte, das direkt im Stadtzentrum, unweit des Bahnhofs, am Madonnenplatz lag. Sein etwa 12 qm großes Wohnschlafzimmer und das 2 qm große Bad erwarteten ihn wie eine Insel der Seligen.
Der schon etwas stumpfe Badezimmerspiegel präsentierte ihm ein bartstoppeliges Weltenbummlergesicht mit verschlafenen Augen. Seine Erschöpftheit konnte er nicht mehr verbergen. Nicht einmal die makellos glatte Oberfläche des anderen Gesichts hinter dem seinen vermochte darüber hinweg zu täuschen. Große, schwarze Pupillen, die ganze Augenhöhle füllend schauten ihn an. „Komm mit“, sagte oder dachte es leise. „Das ist der Wahnsinn“ antwortete der bartstoppelige Weltenbummler und raufte sich die Haare. Das war ja nicht mehr auszuhalten. Tränen liefen über seine Wangen. Irgendwo daneben, dazwischen ( zwischen den beiden, sehr verschiedenen Kreaturen im Spiegel ), stand Hauptkommissar Kaspar Gleich, genannt Sam, der Im Begriff stand sich aufzugeben. Wie ernst konnte er sich noch nehmen? Ein vehementer Schwächeanfall zwang ihn zu Boden. Erfüllte sich die Offenbarung, daß er sich binnen kurzem auflösen würde, nun doch? Wenn ja, dann blieben ihm noch 11 Stunden.
Mit letzter Kraft zog sich Sam zu seinem Bett hinüber, wo er sofort in einen tiefen Schlaf fiel. Mit dem Schlaf kamen, ganz intensiv, die Träume. Eingangs ihrer langen Kette verrichtete ein Mann seine Arbeit. Und der Mann beobachtete sich selbst dabei. Aufgeregt kam Inspektor Greifzu ins Büro und berichtete... Das war vor 20 Jahren gewesen. Eine Szene aus der jüngeren Vergangenheit ließ ihn aus – im Traum vertrauten Augen - sehen: auf Füße! Sie ragten aus einer Röhre heraus und gehörten zu einem Körper, der sich gerade einer peinlich genauen Untersuchung unterziehen musste. Mitleid und Wärme überfluteten sein gütiges Herz und er spürte, daß er lächelte. Dann hörte er sich freundlich denken: „seien sie hier willkommen, Sam“. Um ihn ertönte dezente Musik aus einer virtuellen Zone. Die Anstrengung über eine große Entfernung mit dem Besitzer der Füße in Kontakt zu treten war groß. Er fühlte sich wie durch die Grenzen einer anderen Wirklichkeit von seinem Gesprächspartner getrennt. Es roch ein wenig wie nach verbranntem Fleisch... Gleich darauf lag der, für Mütter so verführerische Babygeruch, in Verbindung mit Reinigungs- und Arzneimitteln, in der Luft: Eine Entbindungsklinik. Sams Geist raste durch die Korridore und stoppte schlagartig vor einem Operationstisch. Ein grün gekleidetes Menschenwesen mit Mundschutz hielt ein blutüberströmtes Bündel in der Hand, das noch immer über einen Schlauch mit einem Kadaver verbunden war. Eine Kaiserschnittgeburt. Die Mutter war soeben verstorben. Rechts daneben schwebte ein Ballon aus orangefarbenem Licht. Der Ballon flimmerte wie eine schlechte Fernsehübertragung. Erkennbar wurden jedoch einige überintelligente Insekten und ein Fisch, die über die Zukunft von Gayas Kindern konferierten.
„Aus gutem Grund haben wir sie soweit gebracht“, dachte eines der Insekten. „Doch jetzt ist es besser ihre Ausbreitung im Universum zu verhindern. „Der Schaden durch ihre Instinkte, wie Eifersucht und Rivalität wäre entschieden zu groß“.
Der Fisch blähte die Backen. „Wir brauchen sie nur in ihren Neigungen zu bestärken...“ blies er mehr als er sagte.
Vor Schreck kam Sam kurz zu sich. Sein Zimmer erkannte er aber nicht mehr. Ihn umgab das Gewitter der Agonie. Die orangefarbene Blase verschluckte ihn. Das Neugeborene verschwand. „Wir werden einen Botschafter und einige potente Mitarbeiter brauchen, die den bestimmenden menschlichen Grundeigenschaften Geburtshilfe leisten. Ihre tiefsten Wünsche sollen vermehrt in Erfüllung gehen. Wir übertragen die von ihnen unidentifizierbare Macht ihres kollektiven Unbewussten ( UHU ) in die Wirklichkeit. Und am Ende darf es keine Lügen mehr geben. Wenn sie erkennen wie sie im Grunde sind, werden sie sich, vor die Wahl gestellt, in der Mehrzahl für ihre einfachen Antriebe entscheiden“...
Hauptkommissar Gleich, der für eine Sekunde ganz unsichtbar wurde, materialisierte sein Skelett wieder auf der Matratze, blieb jedoch ohne Besinnung.
(c) Sur_real