Inking
Punkt, Punkt, Komma, Strich ...
Leise surrte die Tätowiermaschine über ihre Haut, während er ganz konzentriert auf diesen Prozess seinen Gedanken nachhing.
Dreißig Jahre lang kannten sie sich nun schon, hatten einträchtig nebeneinander im Kinderwagen gesessen und sich die Nuckelpulle geteilt, von der Spielgruppe über die Grundschule stets gemeinsame Freunde und Feinde gehabt - und immer war er ihr zur Seite gestanden, wenn andere das pummelige kleine Mädchen aufzogen.
Dann kam der Ruhm - mit zehn Jahren hatte sie bei "Star search" gewonnen, danach ging es durch die Moderation des "Disney Clubs" und erste Plattenerfolge mit ihrer Karriere steil nach oben.
Als sie fünfzehn waren, kam sie noch einmal zu Besuch in ihren kleinen Heimatort in Mississippi und, da ihrer beider Eltern immer noch Nachbarn waren, begegneten sie sich wieder. Aus dem pummeligen, bebrillten, hässlichen, tollpatschigen Entlein war eine hübsche junge Frau geworten - die einstmals braunen Augen verfremdet mit türkisgrünen Kontaktlinsen, das mausbraune Haar honigblond gefärbt.
Und plötzlich war alles anders - er nahm sie nicht mehr als den Kumpel aus Kindertagen wahr sondern als höchstbegehrenswerte junge Frau. So lud er sie zu Rotwein, Kuchen und trautem Beisammensein ein, an einem Wochenende, als seine Eltern verreist waren. Doch sein Liebesgeständnis wehrte sie mit dürren Worten ab, für sie sei er nur ein Weichei und ein Warmduscher und hatte kein anderes Gesprächsthema als Justin - Justin hier, Justin da. Er musste sich damit abfinden, dass sie nicht das gleiche für ihn empfand.
Ihre Wege trennten sich.
Sie war der große Star, dessen Leben mit Höhen und Tiefen - mit Kurzehe, Eskapaden, Sucht er in der Yellow Press mitverfolgen konnte.
Er, der immer schon künstlerisch begabt war, baute sich ein Tattoo-Studio auf, dass bei Stars und Sternchen sehr beliebt war, weil sie wussten, dass er kreative Ideen hatte und gute Arbeit leistete.
Punkt, Punkt, Komma, Strich ...
Sie fühlte seine Hände auf ihrer Haut und das Pieksen der Nadel. Wieder einmal war sie einem spontanen Entschluss gefolgt, sozusagen einer Schnappsidee in Grappa-Laune und hatte sich von ihrer Limousine zu diesem Studio bringen lassen, von dem sie nur Gutes gehört hatte. Die Hand schon auf der Türklinke hatte sie noch gezögert und überlegt, ob sie diesen Schritt wagen sollte, aber so eine Aktion war immer für Schlagzeilen gut. Gemeinsam mit dem Tätowierer, der ihr vage bekannt vorkam, hatte sie das Buch mit Motiven durchgeblättert, aber natürlich konnte sie, der Star, nicht mit so etwas primitivem wie einem Arschgeweih, das inzwischen jeder hatte, auftreten und auch Tribals waren absolut "out". Sie schwankte zwischen dem Bild eines bullfinch und einer filigranen Zeichnung von Herbstzeitlosen und entschied sich für letzteres, da es ihre zarte Seite betonen sollte.
Entspannt lag sie da und lauschte den Tönen aus dem Radio. "Wie absolut retro", dachte sie bei sich. "Wer besitzt heutzutage noch ein Radio? Und warum hört er diesen merkwürdigen Nostalgiesender mit Songs von vor 20 Jahren?"
Punkt, Punkt, Komma, Strich ...
Bedächtig führte er die Nadel über ihre Schulter. Die Tinte drang in die punktierten Stellen ein und sorgsam tupfte er die überschüssige Farbe ab.
Er hatte sie gleich erkannt, als sie zur Tür hereinkam - wie sollte er das auch nicht, schließlich war sie immer und überall in den Medien präsent - und selbst wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, in seinem Herzen und seinen Gedanken war sie das immer gewesen, auch noch 15 Jahre nach seinem missglückten Liebesgeständnis.
Ihm war klar, dass sie sich nicht an ihn erinnerte, und er machte sich nicht die Mühe, ihr Gedächtnis aufzufrischen. Schließlich würde sie bald eine ganz andere bleibende Erinnerung an ihn direkt unter der Haut tragen.
Er wusste nicht, ob das Grummeln in seinem Magen vom zu Mittag genossenen Hühnerfrikassee herrührte oder von immer noch flatternden Schmetterlingen, er wusste aber, dass er sie nicht wieder spüren lassen durfte, was sie ihm bedeutete, damit sie nicht vor ihm zurückschreckte wie vor einer Spinne.
Punkt, Punkt, Komma, Strich ...
"Hoffentlich ist er bald fertig", dachte sie bei sich. "Die Zeit wird gerade noch ausreichen, dass ich mich im Hotel frisch mache und die Stylistin mich für den Auftritt bei den "Grammy Awards" herrichten kann. Eigentlich eine dumme Idee, sich gerade heute tätowieren zu lassen. Nun kann ich kein schulterfreies Outfit tragen."
"Fertig!" hörte sie seine Stimme und wollte schon aufspringen.
"Nicht so eilig", meinte er und klebte sorgfältig eine Schutzfolie über sein Machwerk.
Nur mit halbem Ohr lauschte sie seinen Tipps zur Pflege und Behandlung des Tattoos in den nächsten Tagen.
"Meine Assistentin wird die Rechnung in den nächsten Tagen überweisen" murmelte sie auf ihre übliche herablassende Art.
Fast war er versucht, die beleidigte Leberwurst zu spielen und ebenso arrogant zu erwidern "Ach weißt Du, das geht aufs Haus um der alten Zeiten willen", aber er hielt sich zurück.
Gedankenvoll an einem Zimtstern knabbernd blickte er ihr hinterher.
Im Hotel angekommen, zog sie sich eilig aus und schlüpfte unter die Dusche. Die Stunde, die das neue Tattoo unter der Schutzfolie verbleiben musste, war gerade vergangen. Sorgsam seifte sie ihre Schulter ein und verzog schmerzvoll das Gesicht, als sie ein leichtes Brennen der geröteten Haut spürte. Sorgsam tupfte sie die Haut trocken und drehte sich dann zum Spiegel, um das frisch vollendete Kunstwerk zu bewundern.
Aufgescheucht durch das hysterische Kreischen ihres Schützlings eilte ihre Assistentin aus dem benachbarten Raum der großzügigen Suite und fand den großen Star mit vor Schrecken geweiteten Augen vor dem Spiegel, aus dem sie das debil-grinsende Mondgesicht des Tätowierers auf ihrer Schulter anglotzte.
Punkt, Punkt, Komma, Strich ...