Traumfetzen
Langsam öffnet Lina ihre noch schweren Lider. Sie möchte noch nicht aufwachen, möchte noch etwas in ihrer Traumwelt bleiben und sie weiter erleben. Langsam geht ihr Blick zum Fenster. Dort sind jedoch nur dunkle Wolken am Himmel zu erkennen. Kein Sonnenstrahl findet seinen Weg hindurch.Lina richtet mühevoll ihren Oberkörper auf, stützt sich auf ihre Hände und rutscht mit dem Po in Richtung Kopfende des Bettes. Jetzt kann sie sich etwas anlehnen. Ihre linke Hand tastet sich zum Nachtschrank, auf dem ihr dickes, in Leder gebundenes Buch liegt. Sie zieht es zu sich heran und legt es auf ihren Oberschenkeln ab. Ihre Hand streicht liebevoll, ja fast zärtlich über der festen Einband.
Annett hat ihr dieses Buch vor Jahren geschenkt. „Du bist in deiner Traumwelt immer so glücklich, Mutter! Bewahre dir deine Träume und schreib sie auf!“ Annett war ein gutes Kind. Sie hat verstanden, wie viel Lina die Unbeschwertheit in ihren Träumen bedeutet. Jeden Morgen, wenn sie erwacht, versucht sie ihre Träume in diesem Buch festzuhalten. Viele der großen Seiten sind von ihr schon mit zittriger Schrift beschrieben und immer, wenn sie sehr traurig ist, liest sie darin und findet etwas Fröhlichkeit wieder.
„Ich muss mich erinnern, bevor die Traumfetzen aus meinem Kopf verschwinden und nie wieder auftauchen!“ Lina braucht nicht lange zu warten und sie sieht die Bilder wieder vor sich.
Sie läuft Hand in Hand mit Paul durch einen kleinen Wald. Beide sind sommerlich gekleidet und durch die Wipfel der Bäume finden einzelne Sonnenstrahlen ihren Weg zur Erde. Ihre unbeschuhten Füße kennen keinen Schmerz und freuen sich über den feuchten Moosboden unter ihnen. Zwischen den mächtigen Baumstämmen wachsen wilde Blumen und der zwieblige Geruch der Lauchblüten liegt in der Luft. Unbeschwert laufen sie weiter und Lina ist einfach nur glücklich Paul wieder an ihrer Seite zu haben und die Leichtigkeit des Lebens zu spüren. Sie versucht jede noch so kleine Einzelheit schriftlich festzuhalten, damit sie auch diesen Traum wieder durchleben kann, wenn es ganz schlimm wird.
„Mutter, bist du soweit, oder soll ich dir noch etwas Zeit geben?“ Annett steckt ihren blonden Bubikopf durch die Tür und lächelt Lina aufmunternd an. „Nein Kind! Ist schon in Ordnung. Was ich festhalten konnte, steht im Buch der Träume. Wir können den Tag starten.“
Annett schiebt den Rollstuhl ans Bett der Mutter und hilft ihr hinein. Ihr trauriger Blick fällt auf das Traumbuch und dann fährt sie Lina ins Bad, um sie für den beschwerlichen Tag fertig zu machen. Der tägliche Kampf beginnt aufs Neue.