Du, großer Tod...
Du, großer Tod, hast dieses Jahr nicht nur das eine Mal vor mir gestanden.
Ich ahnte dich in Zimmern ab und an
und spürte deine Gegenwart wie einen Hauch,
der kühl und zart umfassend mich umgab.
Dort, bei den Alten war es, bei den Kranken,
für die es keine Heilung und keinen Zukunftsblick mehr gab.
Gelebte Leben und verbrauchte Kraft zu sammeln ist ja dein Beruf – ich habe das verstanden.
Und mich verneigt vor deiner Größe
und bin gewichen vor deiner Hand, die sich das Halten,
das in meiner Hand noch war, verbat.
Doch seh ich dich jetzt wieder? Nach nur so kurzer Zeit des Trauerns und Abschiednehmens von der Mutter, alt und krank?
Was stehst du hier am Bett des Bruders, der jünger ist als ich und kraftvoll und vital erscheint?
Du willst doch nur ein wenig schrecken, und uns mahnen,
das Leben eingedenk des Endes nur umso inniger zu lieben und zu achten.
Nein, nein, und wieder nein, den Bruder kannst du mir nicht nehmen!
Du weißt wohl nicht, was dieser Bruder für mich war?
Mein Spielfreund erster Kindertage, mit dem ich alles vom Leben
im Spiel geübt und seine Regeln früh verstanden hab.
Ein Trost war er bei Kinderängsten - in seinem Bett in dunkler Nacht hat er das Böse leicht mit einem Scherz gebannt.
Mein Kamerad war er bei allen Streichen, die wir den Eltern spielten, und er war der, mit dem ich Lob und Tadel ganz gerecht geteilt.
Vertrauter war er mir in allen Kümmernissen,
und oft der erste, an den ich sie verriet.
Wie einsam müsst ich meine Kindheit nennen,
hätt´ er sie nicht mit mir geteilt.
Und weißt du, Tod, so ist´s ein Leben lang geblieben!
Bis heut, zu diesem Tag und dieser Stunde, ist mir mein Bruder
Trost und Rat und Freude – ein Weggefährte und ein Freund.
Grad war ich noch am Muttergrab, und seine Hand, die hielt mich fest – so konnt ich stehen. Ich habe seine Tränen weggewischt
und er hat mich umarmt.
Nein, Tod, du musst dich irren – ich hoffe sehr, dass du das kannst!
Du musst zu andern gehen, die dich ersehen,
für die du die Erlösung bist.
Mein Bruder ist ein Teil von mir, den kannst du mir nicht nehmen!
Nimm mir den Arm, ein Bein – und lass den Bruder unversehrt
und mir den Freund im Leide.
Tod, du bist groß, du hast die Macht, hör, was ich hier spreche:
Lass mir, der Schwester, noch die Zeit, zu altern und zu reifen,
dann werd ich, was geschehen muss, auch sicherlich begreifen.
Doch bitt ich dich – und weiß, du kannst es machen –
lass mir den Bruder noch, mit seinem frohen Lachen.
©tangocleo 2012