Das Begehen des Eises
Das Begehen des Eises• Vielleicht ein Liebesspiel? –
Ein sonderbares, unbegreifliches Lied singt er:
„Was ich wusste, hab ich vergessen,
kann dafür in die Zukunft seh’n.
Ob’s gut wird, will ich nicht ermessen,
auch nicht an der Scheibe dreh’n.“
„Was singst du da?“, will ich wissen.
Er hält inne, sagt: „Das hörst du doch.“
Ich seufze: „Sicher höre ich das. Ich weiß trotzdem nicht, was du singst.“
„Ein Lied“, sagt er, „einfach nur ein Lied. Frauen hören doch gerne Lieder. Frauen stehen auf Sänger. Das macht sie so weich, so willenlos, so …“
Die nächsten Wörter lässt er schweben, spricht sie nicht aus. Will sie für sich behalten. Würde der Poet sich vielleicht verraten? Oder will er nur bedeutungsvoll erscheinen, wo gar keine Bedeutung ist?
Sein Blick schweift nach irgendwo, in ein imaginäres Land, das nur er zu sehen vermag. Vielleicht ist dieses Land ja wirklich voller Lieder? Doch ich komme dort nicht vor. Keine Frau kommt dort vor. Nur er. Und seine Lieder. Ich bin dort nicht, in seiner Welt gibt es nur ihn, und alles andere ist Bühnenbild, ist Staffage, ist Schmuck für ihn und seine Welt. Mich gibt es dort nicht.
Hier bin ich aber auch nicht. Für ihn bin ich überhaupt nicht. Dabei sind sich unsere Körper eben noch so nah gewesen.
„Gut, dann eben ohne Text“, flüstert er. Und er summt diese Melodie, die mich schwindeln macht.
Verdammt, denke ich, das gibt’s doch nicht. Der Kerl singt irgendein Lied oder summt einfach nur eine blöde Melodie – und prompt weiß ich nicht mehr, wer ich bin! Und es tanzt in mir. Es will etwas in mir wachsen, will raus aus mir, will befreit werden. Das darf doch nicht wahr sein! Was ist hier los?
Ich setze mich abrupt auf.
„Was ist?“, fragt der Sänger.
„Du singst schon wieder“, antworte ich.
„Na und?“
„Es ist schön, was du singst. Oder summst. Doch es ist nicht für mich!“
„Und wenn schon“, sagt er lächelnd und sieht mich dabei nicht einmal an. „Es macht dich wehrlos, das genügt doch. Es zählt doch nur das Hier und Jetzt ...“ – und nach einer kleinen Pause fügt er hinzu: "Ich bin, wie ich bin, und ich lass mich nicht verbiegen!"
Dann summt er weiter diese Melodie, als wäre ich nicht vorhanden.
Warum sind Männer manchmal so?
Nein! Der Sänger ist kein Mann. Noch nicht. Er ist einer, der ständig in seinen eigenen Spiegel blickt, der um sich selbst kreist, dem nur seine eigene Welt wichtig ist, dem seine Selbstdarstellung als Poet und als Sänger so viel mehr bedeutet als andere Menschen, der nur gut ankommen will, der andere nur als Dekoration benötigt. Und als Fluchtfahrzeug, um sich selbst nicht ins Gesicht blicken zu müssen, um nicht erkannt zu werden.
Heißt es nicht in alten Büchern: „… er nahm sie stürmisch, und sie erkannte ihn“, wenn ein Weib mit einem Kerl Sex hatte? Wollen diese Menschen, die sich Männer nennen, heute nicht mehr erkannt werden?
Doch er singt, verdammt noch mal, die schönsten Lieder, die ich jemals gehört hab, verzauberte Melodien aus einer anderen Welt und aus einer anderen Zeit. Er singt immer diese Lieder, wenn er eine Frau will.
Und sie sinken ihm reihenweise zu Füßen. Wie ich.
Manchmal singt er diese Lieder auch, nachdem er eine Frau hatte. Aber er singt sie niemals für diese Frau. Nur für sich selbst, damit auch sie ihm verfällt, damit er jederzeit auf sie zurück greifen kann, wenn ihm danach ist, wenn er nicht allein sein will, wenn er Ablenkung und Unterhaltung wünscht, wenn er lobpreisend von sich selbst berichten mag, wenn es ihn nach körperlicher Nähe gelüstet.
„Wovor flüchtest du eigentlich?“, frage ich und hoffe, ihn damit zu treffen, damit ich ihn endlich spüre, ihn berühre. Ihn anders zu berühren als in den letzten Stunden, in welchen unsere Körper ineinander verschlungen waren, schwitzend, keuchend, stöhnend, schreiend, sich immer wieder aufbäumend vor lauter Lust. Da hab ich ihn berührt - und er mich, doch es waren nur unsere Körper.
Er war nicht da. Und ich wäre doch so gerne bei ihm gewesen, hab ihn aber nicht in seinem Körper gefunden.
Ja, es war gut, aber etwas hat gefehlt. Ich wäre so gerne ganz Frau gewesen, hätte mich so gerne in ihm verloren. Doch er war nicht ganz Mann, er war wie so viele: Narziss, der in seinem Spiegel immer nur nach sich selbst sucht. Der seinen Wert über sein Selbstdarstellen zu finden glaubt.
Was mich jedoch zur Frau gemacht hätte in diesen Stunden voller glühender Haut, was meine Lust endgültig gestillt hätte, das war nicht hier, war nicht in ihm gewesen.
Aber – wenn ich mich als Frau fühlen will, wenn ich mit Haut und Haaren Weib sein will, ihn mit meinem Körper und meinen lebendigen Bewegungen zum Wahnsinn treiben, mit meiner Liebe trunken machen will – wild, gierig, dunkel, feucht, voller Verlangen und Zärtlichkeit, brennend vor Sehnsucht, mich fallen zu lassen und aufgefangen zu werden -, dann ist da keiner. Ich spüre die nahende Ekstase, will mich hingeben – doch da ist niemand, dem ich mich hingeben könnte. Ich will mich verlieren, einfach nur meine heiße und verschlingende Weiblichkeit spüren, zuckend vor Lust, vibrierend vor lauter nasser Weiblichkeit und voller Gewissheit, tiefen Frieden zu empfangen, in Frieden mit mir und allem zu sein, also befriedet, befriedigt zu werden …
Wenn ich also ganz Weib bin – kann es dann falsch für ihn sein, einfach nur Mann zu sein? Will und brauche ich dann in diesem Augenblick nicht einen Mann? Kein entmanntes Wesen, das sich nicht traut, Mann zu sein, das meiner wilden und weiten, unberechenbar wogenden Lust nicht wirklich begegnen will, ihr nicht standhalten kann? Warum also flüchtet er? Wovor? Was macht ihm solche Angst?
Was ist nur los mit den Frauen und den Männern?
Warum machen Mütter aus ihren Söhnen nicht Männer, denen frau sich später vertrauensvoll hingeben kann? Die eine Frau nehmen, sie halten, ihr standhalten, sie zur Frau machen, zu einem freien, wilden Wesen, verrückt vor Geilheit, überfließend vor Lust und Liebe und purem Glück?
„Flüchten?“, fragt er und sieht mir endlich ins Gesicht. „Wieso flüchten? Ich singe nur. Das ist alles.“
„Du singst jedes Mal, wenn du mich willst. Das weißt du. Es macht mich wahnsinnig, es weckt etwas in mir, aber ich begegne dir nicht wirklich. Wo bist du?“
„Oh, Frauen! Was ihr immer denkt! Nur weil ich ein paar Minuten für mich singe, musst du das nicht gleich Flucht nennen. Nur weil ich Frauen auf die Weise verführe, die ich am besten kann, ist das nicht gleich eine Flucht.“
„Mag sein“, sage ich leise, „dass das stimmt. Weißt du, ich will eigentlich nur dir als Mann begegnen, als einer, der mutig genug ist, hier zu bleiben, bei mir zu sein. Doch du bist so weit weg, du singst dich in ein fernes Land …“
„Ach, wir waren uns eben nicht nahe?“ Jetzt klingt er zynisch, und Zynismus ist der Wall, den verkopfte Menschen aufbauen, um nichts fühlen zu müssen. Oh Mann!
„Doch, unsere Körper waren uns sehr nah", wage ich leise zu äußern.
„Na also, ist das nichts? Vielleicht bist du zu weit weg? Kommt auf den Standpunkt an, nicht wahr? Wenn zwei sich nicht nahe fühlen, sollte erst geklärt werden, wer hier und wer weg ist. Oder nicht?“
Klar, denke ich und antworte nicht. Logik! Logik? Der Verstand redet Gefühle klein und kaputt. So sind sie, diese Wesen, die sich Männer nennen und noch keine sind. Sie haben Angst vor Gefühlen, Angst vor sich selbst.
Aber ich sage nichts. Es wäre sinnlos.
Und er, der Poet und Sänger, er spürt nichts, er ahnt nicht einmal, was in mir vorgeht, und er singt einfach weiter:
„Was ich nicht weiß, das macht mich weise,
und was ich weiß, ist mir egal.
Soll niemand wissen, wie ich heiße.
Mir bleibt nicht die geringste Wahl.“
Seine Lieder sind so schön, aber auch rätselhaft, verwirrend. Es klingt alles so schön, doch es sagt nichts aus. Er, der Sänger und Poet, er flüchtet sich in unbegreifliche Wörter, damit man ihn nicht versteht. Manche Frauen fühlen sich davon verwirrt, aber auch angezogen. Ich auch. Vielleicht, weil wir dahinter etwas vermuten, wo gar nichts ist?
So ist das also mit den Frauen und den Männern, denke ich.
Frauen brauchen Männer, um Weib zu sein. Und Männer brauchen wohl Weiber, um Mann sein zu können. Doch wo sind sie, die Weiber, die tief in uns stecken, und die Männer, die in uns schlummern? Warum haben wir sie versteckt, die uns erwecken könnten? Und warum wurden sie so gut versteckt, dass wir sie selbst nicht mehr finden?
Ishtar, Astarte oder wie immer sie in all den Jahrtausenden genannt wurde, ich hab sie wohl verloren. Ich bin kein Weib mehr, aber ich spüre es noch in mir.
Dieses Weib in mir würde sich so gerne weit ausbreiten, sich entfalten, sich aus seinen schützenden Gewändern entwickeln, aus seiner Schale winden - wenn ihm einer begegnet, der nicht nur schöne, verwirrende Wörter von sich gibt, nicht nur schöne Augen macht, nicht nur schöne und verzaubernde Lieder singt.
So ziehe auch ich mich zurück in mein fernes Land, versinke in mir selbst, verschließe mein Herz und begebe mich wieder auf dünnes Eis, auf die Suche nach einem Mann, der einer kraftvollen Frau standzuhalten weiß, der volle, saftige und starke Weiblichkeit aushält, der keine Angst vor diesem Ozean an Gefühlen hat, der sie fordert, sie fördert, sie will – und nicht davor flüchtet. Auch nicht in poetische Texte und verwirrende Lieder.
Einen, der verstanden hat: Standhalten ist lebendiger als Flüchten. Und sich selbst zu begegnen – das könnte der Beginn einer neuen Zeit sein voller Menschen, die auch Frauen und Männer sind. Und so ist er in seinem Land und ich in meinem. Und es geht alles weiter seinen gewohnten Gang ...
(Copyright 2012 by: Antaghar)