Kapitel zwei: das Zittern
An diesem Januarmorgen geht es Viola nicht gut. Bei der Arbeit ist sie unkonzentriert. Um nicht zu sagen etwas fahrig. Sie denkt, da könnte eine Grippe im Anzug sein, kein Wunder bei diesem kalten und nassen Wetter.
Irgendwie geht der Tag herum. Viel hat sie nicht geschafft. Auch nicht schlimm, denn es waren heute vor allem Routineangelegenheiten.
Endlich zu Hause. Es ist schon wieder dunkel. Diese kurzen Tage machen Viola schon zu schaffen. Ihr Handy klingelt. Sintra ruft an. Viola freut sich, als sie auf dem Display ihren Namen sieht. Doch als sie Sintras Stimme hört merkt sie, dass bei ihr gar nichts in Ordnung ist.
Viola und Sintra haben sich vor einigen Wochen in Köln beim Wunschhändler kennen gelernt. Und danach hatten sie dieses Gespräch mit dem Seelensammler– wobei sie ja nicht wissen, dass er der Seelensammler ist.
Sintra erzählt, wie schlecht es ihr geht. Viola kann das nur bestätigen. Doch fast gleichzeitig spüren die Beiden wie es in ihren linken Händen kribbelt, fast ein wenig juckt. Das ist dieser leicht geöffnete Kreis, das Bild ihrer Seele. Davon fehlt seit einiger Zeit ein kleines Segment, so dass der Kreis nicht mehr vollkommen ist.
Sie brechen ihr Gespräch ab, denn sie sind wortlos, versprechen später noch mal zu telefonieren.
Viola lässt sich ein Bad einlaufen. Das ist ihr Rezept für schlechte Momente. Ein entspanntes im warmen Wasser liegen, alles wegwaschen. Danach legt sie sich ins Bett, wo sie sich wie in einem Nest in ihre Decke kuschelt. Nur eine Kerze brennt.
Sintra hingegen tigert durch ihre Wohnung. Flatterig. Kurz entschlossen zieht sie ihren Mantel über, steigt in ihre Stiefel und macht sich auf den Weg zu ihrer Lieblingsbar. Dort wird sie unter Menschen sein. Sich ablenken. Sich nicht allein fühlen.
Sie sitzt an der Bar, bekannte Gesichter haben ihr Platz gemacht, sie freundlich begrüßt. Doch sie ist abwesend, nickt nur und wirkt nicht gerade einladend. So kennen sie die Sintra nicht! Kaum ist ihr Drink da, wird sie wieder unruhig. Will nicht sitzen bleiben. Sie legt einen Schein auf den Tresen, nimmt ihr Glas, steht auf und sucht sich einen Platz an einem ruhigen Tisch in einer Nische.
Mit zitternden Händen nimmt sie ihr Glas, trinkt, doch als sie es wieder abstellt, verschüttet sie die Hälfte. „Bleib ruhig“ ermahnt sie sich. Ihre linke Handfläche juckt. Sie weiß, was das ist. Muss nicht hinschauen, doch sie kann es nicht lassen. Mit starrem Blick schaut sie diesen unvollkommenen Kreis in ihrer Hand an. „Was ist los? Was passiert gerade mit diesem Teil meiner Seele, der hier fehlt?“. Genug! Sie steht auf, zwängt sich durch die Bar, die deutlich voller geworden ist. Wehrt Hände ab die sie zurückhalten wollen. Freunde und Bekannte, die es gut meinen. Vergeblich. Sintra rennt fast aus der Bar. Ziellos wandert sie durch die nächtlichen Straßen. Es nieselt. Kalt und nass. Sie scheint es nicht zu bemerken.
Es ist schon fast Mitternacht, als Sintra völlig durchnässt nach Hause zurückkehrt. Ihr ist kalt. Eiskalt und sie zittert. Vor allem ihre linke Hand.
Viola war schon zweimal auf dem AB. Und mehrfach hat sie auf dem Handy angerufen, das auf dem Küchentisch liegt…
Sintra zieht die nassen Klamotten aus, zieht ihren Bademantel an und greift nach dem Telefon. Viola ist noch wach. Hellwach. „Geht’s dir auch so beschissen?“ ihre erste Frage anstatt einer Begrüßung.
Ja, in der Tat, es geht beiden schlecht. Dieses Zittern in der linken Hand ist immer stärker geworden. Mal ist die Hand brennend heiß – fiebrig fast. Dann wieder eiskalt. „Etwas passiert mit meiner Seele“ meint Sintra. Viola stimmt ihr zu. Daran hatte sie auch schon gedacht, doch den Gedanken nicht wahr haben wollen.
Das ist es also. So grauenvoll kann es sich anfühlen, dieses fehlende Stückchen Seele.
Sintra und Viola reden noch lange. Sehr lange. Versuchen sich gegenseitig abzulenken. Es muss nach drei Uhr sein, als beide fast gleichzeitig feststellen, dass das Zittern merklich nachlässt. Sie beenden ihr Gespräch, nicht ohne vorher ausgemacht zu haben, am nächsten Tag zu telefonieren. Sie sinken in einen abgrundtiefen Schlaf, der durch wirre Träume begleitet wird.