Malad Elam Kah
Auf seiner dreimonatigen Tour durch Indien hatten sich ihm viele Erinnerungssplitter eingeprägt und jetzt, seit Monaten wieder zu Hause und den Staub seiner Reise längst von den Kleidern gewaschen, hatte sich Christian daran gemacht, seine Impressionen niederzuschreiben. Er spielte mit dem Gedanken, ein kleines Bändchen herauszugeben. Vier Kapitel waren schon fertiggestellt und an dem nächsten arbeitete er bereits. Möge es hilfreich, aufmunternd und bestärkend für andere sein, die ebenfalls den Wunsch verspürten, dorthin zu reisen, es aber noch nicht wagten.Auch hatte er viele Fotos geschossen und so zog er sich jetzt den Karton mit den Abzügen auf den Schoß und begann, darin zu kramen. So viele Eindrücke! Christian schüttete unvermittelt den Inhalt auf den Teppich und begann mit dem Sortieren. Station für Station seiner Reise breitete sich vor ihm aus. Ihn faszinierte wieder das Farbenfrohe, diese Lebendigkeit, die er mit seinen Bildern gekonnt eingefangen hatte.
Erstaunlich, dachte er ein ums andere Mal, wie bei all der Armut solch Reichtum an Freundlichkeit und Wohlwollen Fremden gegenüber herrschen konnte. Bei uns ist es oft umgekehrt, stellte er wehmütig fest. Je reicher ein Land ist, desto sparsamer wird die Gastfreundschaft verschenkt.
Ein Foto hielt er schon geraume Zeit in der Hand, war sich dessen jedoch nicht bewusst. Er verlor sich in Erinnerungen: Sorayana strahlte im auf dem Bild entgegen - seine kleine Freundin war sie dort geworden. Wie alt mochte sie wohl gewesen sein? Acht? Zehn? Er hatte sie aufgelesen, als er sich beim Feilschen um ein paar Dinge nicht recht verständlich machen konnte und sie sich als Mittlerin anbot. Sie freundeten sich schnell an, er, der große blonde Mann mit der sehr hellen Haut, und sie, das kleine Mädchen mit den blitzenden schwarzen Augen und ebensolch dunklem Haar. Oft sind sie beide dann abends losgezogen, wenn die Hitze über Marawasadhi erträglich wurde. Von Stand zu Stand zog sie ihn, immer wieder auf Neues und Überraschendes zeigend. Durch den ganzen Basar hatte sie ihn geführt, ihn gelehrt, Echtes von Unechtem zu unterscheiden.
Christian hielt plötzlich inne, von einem anderen Bild angezogen. Ihm war, als hätte darauf etwas geblinkt und bevor er sich damit beruhigen konnte, dass vielleicht ein Sonnenreflex auf der Hochglanzoberfläche diesen Effekt verursacht haben könnte, nahm er erneut ein Funkeln wahr. Aber Sonne hatte er nicht in seinem Zimmer, das lag nach Norden. Er zupfte das Foto, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte, aus den übrigen und hielt es dich vor die Augen, blinzelte, drehte und wendete es. Seltsam! Das Funkeln hielt an und jetzt genauer hinsehend erkannte er, dass es von dem Tischchen im Bild kam, das in dem mit bunten Tüchern abgeteilten Marktstand zu sehen war. Plötzlich stieg ihm der würzige Duft von Zederholz in die Nase. Christian lachte ungläubig und rubbelte kurz an seiner Nasenspitze. Nein, sowas aber auch!
*
Er erinnerte sich jetzt wieder! Ja, genau, das war in der Vorstadt von Marawasadhi gewesen, in einem etwas abgelegenen Viertel, in das sich kaum je ein Tourist verirrte. Sorayana hatte darauf bestanden, ihm auch dort etwas zeigen zu wollen. So waren sie beide an einer langen Reihe von Ständen und Lädchen der Silberschmiede entlang gewandert, wo Kostbarkeiten aller Art unter den kundigen Händen der Ziseleure entstanden. Kleine feine Werkzeuge hatten diese benutzt. Eine dünne zierliche, kaum eine Handspanne lange Metallstange zum Punzen und einen noch zierlicheren Hammer, unter dessen kunstfertigen Schlägen die langen Reihen von Ornamenten, zusammengesetzt wiederum aus winzigen Punkten, entstanden.
An diesem Abend waren sie bis spät in der Nacht dort geblieben. Einer der Meister hatte es Christian besonders angetan, denn unter dessen Händen entstanden Bucheinbände aus hauchdünnem Metall, verziert mit Bilderreihen, so lebensecht, wie er es nie für möglich gehalten hatte. Das Besondere bei diesem Silberschmied war, dass er als Bezahlung lediglich verlangte, die Geschichte erzählt zu bekommen, die den Inhalt des Buches ausmachen würde, für das seine Kunden den Einband bestellten.
So konnten Christian und seine junge Begleiterin unter anderem recht delikate Szenen entstehen sehen, so pikant, dass er Sorayana lachend die Augen zuhielt. Doch der Silberschmied war wirklich ein ganz besonders begnadeter Künstler. Wie lange mochte er wohl schon auf der Welt sein und dieses Handwerk betreiben? Der Länge seines Bartes und der runzligen Haut nach zu urteilen wohl an die achtzig Jahre. Sorayana schüttelte ihren kleinen Kopf, so dass die langen schwarzen Haare nur so flogen und nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Meister in einem sonderbaren Dialekt, kicherte sie und zeigte auf die Zahl eines Rupienscheins, den Christian ihr geschenkt hatte. Erstaunliche einhundert Jahre sollte der Alte schon auf dem Buckel haben? Na, wer's glaubt!
Christian hatte jedenfalls fasziniert zugesehen, wie die fertig gestochenen Bilder mit Curry eingerieben wurden, was zur Folge hatte, dass die in den Vertiefungen jetzt dunkelgolden leuchtenden Muster noch besser zu erkennen waren. Dann nahm der Meister flache, polierte, elfenbeinfarbene Teilchen und fügte sie geschickt an einigen Stellen in die Bildnisse ein. Sorayana sah zu Christian hoch und sagte: Badara - Knochen! Sie machte eine wellenförmige Handbewegung und meinte - von Kamelen, weit weg von hier, wertvoll! Dann wurde die kostbare Arbeit noch gehörig poliert, sodass sich ihre Gesichter darin spiegelten und ein wunderbares Funkeln über die Flächen wanderte.
Christian war so begeistert von der wundervollen Arbeit des Alten, dass er spontan beschloss, sich ebenfalls einen Bucheinband anfertigen zu lassen. Natürlich wollte der Meister die Geschichte seines Buches hören, doch Christian musste passen - die Geschichte würde erst noch geschrieben werden. Er wüsste noch nicht genau, wie sich der Inhalt gestalten würde. Aber Indien wäre das Thema, das sei schon mal klar.
Er gab zu verstehen, dass er den Einband auch ohne Bildleiste nehmen würde, die Ziselierungen an den umlaufenden Kanten allein wären schon ein Kunstwerk für sich.
Der Silberschmied sah ihn lange an, so, als studierte er Christians Gesicht, ja, er forschte geradezu darin. Und als Christian sich eben entmutigt abwenden wollte, reichte der Meister seine alte, schwielige Hand mit den gelblichen Verfärbungen über seinen Arbeitstisch hinweg und forderte sein Gegenüber auf, einzuschlagen, die Abmachung zu besiegeln. Sorayana klatschte begeistert in ihr kleinen, nicht ganz sauberen Hände und übersetzte, was der Schmied ihr eindringlich zu verstehen gab:
"Feringhi, Fremder, du wirst ein Buch schreiben über meine Heimat - das ist mir Lohn genug. Jedoch achte darauf, dass du bei der Wahrheit bleibst! Nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit darfst du schreiben, wenn meine Arbeit deine in sich aufnehmen soll. Hältst du dich daran, wird es dir an nichts fehlen, solange du lebst. Handelst du zuwider, wird es dir schlecht ergehen, so wahr ich Malad Elam Kah heiße."
Christian schaute den alten Meister verwundert, ja ungläubig an, sagte sich dann aber: andere Länder, andere Sitten! und schlug ein.
Wenige Tage später fanden er und seine kleine Freundin sich wieder bei dem Alten ein und nahmen erfreut die sorgfältig in ein öliges pergamentartiges Material eingeschlagene Bestellung, von der ein köstlicher würziger und holziger Duft aufstieg, entgegen. Christian roch unwillkürlich daran und Sorayana flüsterte ihm sogleich zu, dass es Zederholzöl sei. Dankbar wollte Christian dem Meister noch einige Rupien zustecken, doch der lehnte freundlich aber bestimmt ab, lächelte unergründlich und verschwand dann ins Innere seines kleinen tücherverhangenen Ladens und ließ sich nicht mehr blicken.
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Gedankenverloren ließ Christian das Foto sinken. Sorayana - was sie jetzt wohl trieb? Ob sie einen anderen Feringhi gefunden hatte, dem sie die Schätze des Basars zeigen konnte? Und der Silberschmied, ob der wohl noch lebte? Es war inzwischen fast ein Jahr vergangen. Doch Christian hatte ihn nicht vergessen. Er erinnerte sich sehr wohl an die Worte des Alten und beim Recherchieren und Niederschreiben hatte er peinlich genau darauf geachtet, bei der Wahrheit zu bleiben, bei allem nur das mitzuteilen, was er für erwiesen hielt und selbst erlebt hatte. Er erzählte von der Freundlichkeit der Menschen auf dem Subkontinent, ihren Sitten und Bräuchen, den Absonderlichkeiten. Alles fand Aufnahme in seinen Texten. Doch er enthielt sich jedes Mal eines Urteils und er war darauf bedacht, die geschilderten Dinge und Szenen für sich sprechen zu lassen. Denn eine Meinung zu all dem sollten sich die nach ihm dorthin Reisenden jeweils selbst bilden. Oh ja, er hatte den Wunsch des Silberschmieds nicht vergessen, er respektierte ihn zutiefst. Und das Schreiben war ihm so leicht von der Hand gegangen, wie noch niemals zuvor. Fast wie von selbst reihte sich Zeile an Zeile. Wenn es weiter so gut lief, würde er in wenigen Wochen fertig sein.
Christian drehte das Foto andächtig in der Hand und wieder trat dieser funkelnde Effekt auf. Wirklich seltsam, dachte er, und wirklich schön. Dann stand er auf und hatte es plötzlich eilig. Wo war das gut verschnürte Geschenk des Alten eigentlich hingeraten? Er hatte es seit seiner Rückkehr nicht mehr in Händen gehabt. Aber ja, es wird im Schreibtisch sein, in der unteren Schublade, dort, wo er weniger oft verwendete Dinge aufzubewahren pflegte. Christian wandte sich dem Schreibtisch zu, langte nach der entsprechenden Schublade und begann, den Inhalt hin und her zu schieben, bis er in Fingern hatte, was er suchte. In diesen geräumigen alten Möbeln musste man zwangsläufig Ordnung halten, sonst fand man nichts wieder!
Da war es. Und der Duft war jetzt auch wieder deutlich spürbar: holzig, würzig, für ihn der Duft der großen weiten Welt! Christian wog das kleine Päckchen in der Hand und legte es dann vorsichtig, einige Manuskripte beiseite schiebend, auf die Schreibtischplatte. Achtsam begann er die Verschnürung zu lösen und Schicht für Schicht das Ölpapier zu öffnen. Ja, das war es, da lag es vor ihm in seiner ganzen Kostbarkeit. Das Geschenk des alten Silberschmieds und jetzt sein künftiger Bucheinband. Wunderschön gezeichnet waren die Ziselierungen, matt dunkelgolden glänzten die - Bilder! Bilder? Was um aller Welt war das? Wann hatte der Alte die Bilder eingefügt? Christian erinnerte sich genau, dass im Mittelteil der Außenseite nur eine reine freie Fläche gewesen war! Er sank auf den Stuhl, musste sich erst einmal setzen. Was war hier los?
Bewundernd strichen Christians Finger über die Bildnisse. Fünf waren es, in feine Umrahmungen meisterlich eingefügt. Nein, halt, der fünfte Rahmen war leer, jedoch nicht ganz. Einige wenige punktierte Reihen befanden sich darauf. Ohne den Blick von dem Einband zu lassen wanderte Christians rechte Hand in eine andere Schublade und kam sogleich mit einer Lupe wieder zum Vorschein. Bild für Bild erforschte er die Details und hob plötzlich ruckartig den Kopf. Das waren die ersten Stationen seiner Reise! Die jeweilige Provinz und die Stadt, über die er geschrieben, die er in seinen ersten vier Kapiteln erwähnt und beschrieben hatte, waren meisterlich filigran dargestellt. Detailreich und doch von schlichter zeitloser Schönheit ins Metall getrieben ...
*
An diesem Abend schrieb Christian nichts mehr. Auch an den folgenden war ihm nicht danach zumute. Vielmehr saß er nur da, gedankenverloren, sich erinnernd und zutiefst von Freude und Dankbarkeit erfüllt.
Nach wenigen Monaten beendete er das letzte Kapitel. Dreiunddreißig waren es insgesamt geworden. Eines handelte von Malad Elam Kah und der Kunst des Silberschmiedens in einer südlichen Provinz Indiens.
Abschließend ließ Christian das fertige Manuskript drucken, binden und sein eigenes Exemplar in den kunstvollen Metalleinband fassen. Dann machte er ein Foto davon und sandte es nach Marawasadhi, zu Händen Malad Elam Kahs. Er bekam nie eine Antwort.
Aber immer, wenn er sein Buch in Händen hält, die dreiunddreißig Bildnisse betrachtet, strahlt es Frieden aus und ihm wird warm ums Herz. Dann denkt er auch an Sorayana und der würzige Duft nach Zederholz kitzelt ihn, bis er mit ihr lacht.
© Gud_Rune 08/2012