Woran ich merke, dass ich dich liebe
Paul kommt mal wieder spät nach Hause. Seine Frau Tina will erst nur schnippisch sagen, es sei nichts mehr zu Essen da, doch dann bemerkt sie, wie müde und erschöpft er wirkt. Er lässt sich in einen Sessel fallen und stöhnt. Wieder diese Bauchschmerzen. Obwohl sie erst gerade mit dem Aufräumen fertig geworden ist, weil sie selbst erst später als üblich nach Hause kam, geht sie in die Küche und kocht eine Suppe für ihn. Sie rührt im Topf und fragt sich, warum sie sich plötzlich so nützlich fühlt und warum sie nicht einfach eine Dose aufmacht. Sie denkt nach:Es muss Liebe sein, wenn ich dir eine Suppe machen möchte, wenn es dir schlecht geht. Nicht nur so eine gekaufte Fertigsuppe, nein, ich möchte sie selbst kochen, damit du etwas bekommst, das mit Liebe gemacht ist, statt mit Konservierungsmitteln.
Paul bedankt sich, zieht sich ächzend die Schuhe aus und erzählt ihr von seinem Tag. Der Abteilungsleiter hat mal wieder Überstunden angeordnet. Die nicht nötig gewesen wären, hätte man nur eher auf Pauls Warnungen gehört. Er sei ein solcher Idiot.Tina denkt:
Ich weiß, ich liebe dich, weil ich jeden schlagen will, der dir weh tut, sogar deinen Chef. Ich möchte dich in den Arm nehmen, wenn du einen Alptraum hattest und die Stelle küssen, die schmerzt, wenn du dich gestoßen hast. Ich liebe dich, weil ich möchte, dass du gesund bist, selbst wenn du gar nicht krank bist und daher sage ich dir immer wieder, dass du gesünder essen musst, obwohl du es nicht mehr hören kannst und ich dir auch kein gutes Beispiel bin.
Sie stellt ihm den dampfenden Teller Suppe auf den kleinen Wohnzimmertisch und setzt sich neben ihn. Sie vermutet ein Magengeschwür, verursacht durch Stress bei Paul, doch er winkt ab. „Mit so einer guten Suppe wird gleich alles wieder gut!“, sagt er, und gibt ihr einen schmatzenden Kuss auf die Wange. Tina hat schon gegessen, aber um ihm Gesellschaft zu leisten, nimmt sie ein bisschen von dem gerösteten Brot und hört ihm zu, während ihre Gedanken weiter schweifen:
Ich weiß, dass es Liebe ist, weil ich mir Sorgen mache über Dinge, um die sich nur Menschen sorgen, die jemanden von ganzem Herzen lieben, wie die Menge an richtigem Schlaf, den du bekommst, wie viel du trinkst, wenn du traurig bist und ob du genügend Vitamine zu dir nimmst. Ich kümmere mich mehr darum, als es deine Mutter jemals getan hat, glaube ich. Ich denke nicht, dass sie weiß, was Vitamin B-Mangel anrichten kann. Ich liebe dich, weil ich mich fürchterlich aufrege, wenn du eindeutig und offensichtlich krank bist, aber nicht zum Arzt gehen willst – obwohl ich das selbst auch nur ungern tue.
Paul wischt sich den Mund zum dritten Mal mit der gleichen, zerknüllten Serviette ab und erwischt einen Tropfen nicht, der an seiner Wange hängt. Tina starrt darauf und lächelt:
Ich merke, dass ich dich wohl wirklich lieben muss, weil ich dich schön finde, auch wenn du es mal gerade nicht bist. Und ich meine nicht attraktiv, ich meine schön, wunderschön, als ob dir etwas Magnetisches und Mächtiges anhaftet, das durchscheint, selbst wenn du oberflächlich gesehen gerade nicht so gut aussiehst. Ich fühle, dass es Liebe ist, wenn ich dich bewundernd ansehe, selbst wenn du kaputte Socken trägst, unrasiert oder katerig bist. Oder kleckerst wie ein Kleinkind.
Paul fragt sie nicht, wir ihr Tag war, er ist so beschäftigt mit den Problemen auf der Arbeit, die andauernd zu Überstunden und Notsitzungen führen. Er fragt nicht nach den Kindern, die längst schlafen und Tina ist das gewohnt. Manchmal scheint er sie zu vergessen. Doch wenn er Zeit für sie hat, ist er ein guter Vater.
Ich weiß, ich liebe dich so sehr, dass ich dich nicht verlassen könnte, selbst dann nicht, wenn du ein Arsch bist. Normalerweise akzeptiere ich nicht, wenn mich jemand grantig anfaucht oder total nicht beachtet, ich werde schnell sauer auf Leute, die mir nicht zuhören oder mir was vormachen wollen. Aber dir verzeihe ich alles und schiebe es auf Stress oder Frustation oder Ablenkung. Ich lass es bleiben, dich zu kritisieren und warte ab, bis es dir besser geht und du auf mich zukommst. Wenn du aber abwesend bleibst oder nicht merkst, wie du mich verletzt, mache ich den Mund auf und rede mit dir darüber – denn ich liebe dich zu sehr, um ewig darüber hinweg zu sehen, dass du ein Arsch sein kannst. Menschen, die lieben, sagen dir ins Gesicht, was du verkehrt gemacht hast, und nicht hinter deinem Rücken. Und so wirst du nicht lange jemand sein, denn ich vielleicht irgendwann nicht mehr liebe kann. Und so werde ich dich weiter lieben, weil du es einsiehst und das nächste Mal nicht fauchst, wenn du mies drauf bist, sondern meine angebotene Hand nimmst und versuchst, zu lächeln.
Der Löffel fällt mit lautem Klirren auf den Teller zurück, als Paul ihn vollständig geleert hat. Er lehnt sich zurück, nimmt Tinas Hand und zieht sie auf sein Bein. Jetzt erkundigt er sich doch nach den Kindern, lacht, als sie ihm von einer lustigen Bemerkung ihrer Tochter berichtet, und ist froh, dass der Schnupfen seines Sohnes sich gebessert hat. Sein Lächeln wirkt gequält, er seufzt, während er wie immer mit dem Daumen über ihre Hand streicht. Tina spürt, dass er bedrückter ist als sonst und wartet ganz ruhig ab, ob er noch mehr zu erzählen hat:
Ich fühle, dass es Liebe ist, wenn alles andere unwichtig wird, wenn du sagst, dass du mich brauchst. Ich schalte mein Telefon aus, ich sage Termine ab und höre dir zu, ich bin da für dich und alles andere kann warten. Denn es interessiert mich, was mit dir los ist, welches Problem du hast, ich möchte es hören und dir helfen.
Aus dem, was er von den geplanten Umstrukturierungen in der Firma erzählt, macht Tina aus, dass eine Beförderung anstehen könnte und erkundigt sich weiter. Paul scheint Hoffnung zu haben und seine Augen fangen wieder an, ein wenig zu strahlen.
Ich weiß, ich liebe dich, weil ich wirklich möchte, dass du glücklich bist. Nicht nur, weil du deinen sogenannten inneren Frieden finden sollst, dem wir alle hinterher laufen. Ich möchte erleben, dass du zufrieden bist mit deinem Leben, dass du einen Sinn in deinem Leben siehst und nicht nur die Zeit totschlägst. Ich wünsche für dich, dass alles für dich so läuft, wie du es möchtest, und am liebsten hätte ich es, wenn ich dabei sein könnte, ab und zu auch gern mit Champagner dazu.
Diplomatisch wie immer beendet Paul seine Ausführungen mit Andeutungen darüber, dass für eine mögliche neue, bessere Stelle wohl ein Umzug nötig wäre und darüber wolle er natürlich erst mal ganz in Ruhe nachdenken und die Möglichkeiten abwägen. Es sei aber noch viel zu früh, jetzt schon Pläne zu schmieden. Man würde ja sehen. Müde, aber weniger angespannt, tätschelt er jetzt Tinas Knie.
Ich bin davon überzeugt, dass ich dich liebe, weil ich Dinge für dich tun will, die ich für niemanden sonst tun würde. Ich würde dir den Bauch massieren, wenn du zu viel Kuchen gegessen hast. Ich würde doppelt so viel arbeiten gehen, wenn du deinen Job verlieren solltest. Ich würde alles stehen und liegen lassen, wenn du ans andere Ende der Welt ziehen möchtest - Hauptsache, wir sind zusammen.
Paul küsst Tina sanft und zärtlich und flüstert: „Ich liebe dich, weißt du das?“
Sie braucht nicht nachzudenken. „Ja, ich weiß. Und ich liebe dich und ich hoffe, du weißt es auch.“