Marie, Teil 1: Himmelszeichen
Marie(c) 2012by TRB
Kapitel 1: Himmelszeichen
Marie. Eine große, alte Graue mit spitzem Gesicht und eng zusammen stehenden Augen. Sie wartete immer mit hoch erhobenem, zitterndem Schwanz ganz leise und verhalten maunzend an dem Punkt, wo der Mann mitten in der Nacht mit seinem knatternden Roller zu stehen kam.
Der Zeitungsmann hatte immer warme Worte für sie. Er sprach gern zu ihr und sie hörte gern zu. Er nannte sie Marie, weil sie wie eine Marie aussah. Und er lief langsam, denn Marie humpelte ein wenig, wenn sie ihm hinterher lief. Er langte immer in seine Jackentasche und kramte ein paar Krümelchen Katzenfutter hervor, wenn Marie miaute. Und immer, wenn Marie sich nieder hockte, um die Krümel gierig zu verzehren, streichelte der Mann die alte Katze. Mit einer Hingabe und Zärtlichkeit, die, würde man sein Leben kennen, ihm niemals zugetraut hätte. Dieser Mann, der sich hasste für das, was er war. Der verfluchte, was aus ihm geworden war. Was er aus sich selbst gemacht hatte. Aus falsch verstandener Loyalität. Aus Verblendung. Aus Lug und Trug die falschen Ideale verehrte und Menschen vertraut hatte, denen man nicht trauen konnte. Der gegen seine Instinkte gehandelt hatte. Und der deshalb die unterste der Lebensstufen gewählt hatte. Es war leicht hier. Einfach, klar und durchschaubar. Keine Intrigen, kein Verrat, keine Meuchelmörder. Kein Halbschlaf mehr, keine Augen am Hinterkopf und keine Waffe unter dem Kopfkissen.
Vor ein paar Tagen verweigerte Marie das erste Mal ihr Geschenk und maunzte nur leise. Der Mann musste aber die Tageszeitungen verteilen und dachte, sie sei satt oder das heute eingepackte Katzenfutter sei irgendwie nicht schmackhaft. Katzen sind Feinschmecker und alles andere als wahllos, daher überging der Zeitungsmann das zunächst.
Er erinnerte sich. An diesem Tag war er spät dran. Die Zeitungen waren wegen der Olympiade spät angedruckt worden, deshalb kam er erst gegen 2:30 Uhr bei Marie an. Sie wartete schon und er lächelte zufrieden. Seine Freundin war verlässlich. Da war es wieder, dieses verhaltene, zaghafte, beinahe entschuldigende Maunzen der alten Katze. Heftig rieb sie ihr Köpfchen an seinem Knie, als er sich auf die Bordsteinkante setzte und in seiner Jackentasche die Tüte suchte.
Der Mann liebte die Nacht. Diese Stille, dieser Frieden, diese selbstzufriedene, wattierte Pause im Strom des Lebens ließen ihn eine tiefe Ruhe erfahren, die er sonst nur meditativ erreichte. Keine Autos, keine Hektik, kein Licht, kein Druck und vor allem: keine Menschen. Er mochte Menschen. Ja. Auf Distanz. Nur ganz wenige Menschen erreichten ihn. Nur eine Handvoll Menschen konnte er permanent ertragen und noch weniger ließ er nah an sich heran. Sowohl körperlich als auch gefühlsmäßig. Und das hatte gute Gründe. Menschen machten ihm Angst.
Katzen sind ehrlicher. Sie mögen einen, oder nicht. Keine Bigotterie, keine Schleimerei, keine Lüge, keine Verräter. Bei Katzen weiß man immer, woran man ist.
„Na Marie, meine Süße? Wartest du schon auf den dicken Mann?“
Er nannte sich selbst dick. Und ja, irgendwie kokettierte er auch damit. Indem er sein Übergewicht ins Lächerliche zog, täuschte er sich selbst darüber hinweg, dass er im Grunde recht traurig war, dass sein einst von Training und Askese gestählter Körper weicher, runder und wabbeliger wurde. Heute mit über 50 fehlten ihm aber die Kraft und der Wille, das zu ändern. Mit gut 100 Kilogramm und 174 cm Länge über Puffer war er tatsächlich dick. Was seine Figur halbwegs rettete, war sein muskulöser Körperbau, der vom Kampfsport herrührte. Wären seine Schultern nicht breiter als die Hüfte, würde er aussehen wie jeder x-beliebige, wohlgenährte Mann zwischen 40 und 60, der sowohl gerne kocht als auch das Ergebnis ausführlichen Geschmackstests unterzieht.
Marie rieb ihr Köpfchen immer noch am Knie des Mannes und holte ihn aus seinen Grübeleien. Entschuldigend legte er ein paar Krümel Futter auf den Bürgersteig. Marie jedoch kümmerte sich gar nicht darum, sondern kroch immer wieder zwischen seinen Beinen hindurch, rieb ihr Köpfchen und klagte ihr Lied. Ganz offensichtlich hatte sie keinen Hunger, dachte der Mann, stand unter protestierenden Blicken auf und ging seiner Arbeit nach.
Marie maunzte auch heute Morgen kaum hörbar. Wiederum würdigte sie die mitgebrachten Felix- Krümelchen, die der Mann extra für seine pelzigen, nächtlichen Freunde eingekauft hatte, keines Blickes. Marie rieb nur kurz ihr Köpfchen am Schienbein ihres nächtlichen Besuchers, denn ihr Blick schweifte immer wieder in den sternenklaren Himmel.
Der Blick des Mannes folgte dem der grauen Katze. Seine Brauen zogen sich zusammen und er wurde unruhig, als er den Lichtfleck links oberhalb des Polarsterns erblickte.
„Hey Kleines, keine Sorge, das ist bestimmt nur die ISS, die soll ja zu sehen sein diese Tage“ murmelte der Mann eher zu sich selbst und strich der Katze zärtlich durchs Fell. Marie gab einen leisen, klagenden Ton von sich, drehte sich um und verschwand in der nächsten Hecke.
Sein Blick wanderte wieder zu dem kleinen Lichtfleck am sommerlichen Nachtimmel. Er schüttelte leicht den Kopf, riss sich dann aber aus seinen Gedanken und setzte seinen Weg fort. Ein paar Straßenzüge weiter musste er wieder lächeln. Er fuhr nachts ohne Helm, wer würde es schon anmahnen? Gegen 3 Uhr war niemand hier, außer Peterle. Er sah aus wie ein Peterle aus der Werbung und bewachte die Möbelfabrik. Peterle war relativ stabil gebaut, schneeweiß mit einem grauen Rücken und wartete immer sitzend an der Straße. Der schlaue Kater wusste genau, dass der Mann zuerst 2 Zeitungen in den Briefschlitz der Johanniter steckte und erst dann zu ihm kam. Auch mit ihm sprach der Mann und Peterle antwortete ihm mit seiner unnachahmlichen, heiseren Stimme. Sein Schwanz war hoch erhoben und er rieb beinahe aggressiv sein Köpfchen am Bein des Mannes, weil der immer erst die Zeitungen in die Briefschlitze steckte, anstatt das Futter aus der Jacke zu holen.
Doch auch Peterle hatte in dieser Nacht keinerlei Interesse an den Krümelchen des Mannes. Er rieb sein Köpfchen zwar am Bein des Mannes, verschmähte aber das mitgebrachte Futter. Auch Peterle maunzte in den Himmel und das war das erste Mal, dass dem Mann ein leiser Schauer über den Rücken lief.
Peterle verschwand schimpfend zwischen Holzpaletten und Bretterstapeln. Der Mann riss sich wiederum aus seinen Gedanken und sah dem Kater noch einen Moment nach, bevor er seine Tour fortsetzte.
Doch das Licht am Himmel schien ihn zu verfolgen. Immer wieder sah er es, egal in welcher Straße er sich befand. Gegen 5 Uhr begann es, zu dämmern. Ein fahler, stahlblauer Schimmer zeigte sich am Horizont und hob das Hafengebiet in ein unnatürliches, fehlfarbenes Licht. Die Wände der Getreidesilos schienen zu erglühen, die Stahlträger der großen Krane funkelten, weil sich das Licht des werdenden Tages im kondensierten Morgentau brach, der sich auf alle Oberflächen zog wie ein schimmernder Film. Das Wasser spiegelte sich glatt und irgendwie träge und ölig in den Hafenbecken und der Mann gewann den Eindruck, man könne über das Wasser laufen wie über einen klebrigen Teppich.
Wieder schien das Licht ihn zu rufen. Unwillig sah er hoch und war zufrieden, dass der beginnende Tag dieses Licht verdrängen würde. Er fragte sich still, warum das Licht ihn so beunruhigte. Band er sich selbst einen Bären auf? Hatte er zu viele Gespenstergeschichten gelesen im Forum? Von diesem Geistergesicht vielleicht? Nun, dann wären die Geschichten von diesem Waldheini ausnahmsweise einmal gut.
Prustend schüttelte er den Kopf, um diese wirr werdenden Gedanken zu vertreiben und fuhr heim. Der Bote hatte schon die Post- Container gebracht. 2 waren es heute. Die Briefe waren schnell sortiert und eingepackt.
Erneut zog er auf seinem Roller los. Diesmal, um Post zu verteilen. Das Licht jedoch war fort. Hatte sich davongestohlen. Getarnt hinter dem Tag, und dennoch wusste er, dass er kommende Nacht bestimmt wieder daran erinnert würde. Oder auch nicht. Aber eigentlich… wenn man es logisch betrachtete… musste man sich doch keine Sorgen machen? Wenn dort draußen etwas Bedrohliches wäre, hätten doch alle Medien, alle Militärs und Regierungen längst Alarm geschlagen, nicht wahr?
In der nächsten Nacht war seine Tour nicht wie sonst. Zwischen dem Bordell und der Großbäckerei hatten mehrere Polizeiwagen ein paar junge Männer gestellt, die gegen Mitternacht in den großen Edeka- Markt eingebrochen waren. Eine Sekunde lang fuhr dem Mann der Schreck durch die Glieder, aber dass er ohne Helm unterwegs war, schien niemandem aufzufallen.
„Fahren Sie! Weiter, nicht anhalten“ ranzte ihn ein junger Polizist an.
„Du solltest dich mal sehen, du Spinner“ antwortete er im Geiste „wer eine Sonnenbrille nachts um 3 in den Haaren hat, sollte lieber die Schnauze halten“
Aber er grinste nur und freute sich, dass der Polizist die Helmpflicht gerade vergessen hatte. Als er flugs einen Bogen um den Ort des Geschehens machte, musste er unwillkürlich laut auflachen, denn im vorbeifahren sah er, dass sich einer der jungen Männer in hohem Bogen auf die Hose eines Polizisten erbrach. Jede Menge Alkohol und eine Pizza. Der Mann beeilte sich, seine Tour fort zu setzten, bevor die Beamten auf die Idee kamen, den laut lachenden Zeitungsmann zu verfolgen.
Die treue Marie wartete schon. Das Schwänzchen hoch erhoben sang sie ihr bekanntes leises, klagendes Lied. Der Mann, der immer in dunkelblau oder schwarz durch die Nacht fuhr, stellte den Roller aus und setzte sich zu Marie.
„Na Kleines, bist du hungrig?“
Er brauchte nicht laut sprechen, auch ein Murmeln hätte Marie gut verstanden. Er nestelte eine Tüte mit Carny aus der Tasche. Extraportion mit viel Fleisch. Aber Marie starrte nur in den Himmel. Doch heute reichte ein Starren nicht, Marie sah in den Himmel, riss ihr Maul mit den schneeweißen, dolchartigen Zähnen auf und fauchte in den Nachthimmel. Der Mann traute seinen Augen nicht, das hatte er noch nicht erlebt, dass diese alte, friedfertige Dame fauchte! Und dann auch noch in den Himmel zu einem kleinen…
Irrte er sich gerade? Erst gestern noch war es nur ein weiterer, leuchtender Punkt. Ein Stern unter vielen am nächtlichen Firmament. Innerhalb oder außerhalb der Milchstraße wusste der untersetzte Mann nicht zu sagen. Bis gestern hatte es ihn auch nicht interessiert. Doch heute reagierte Marie aggressiv auf den verwaschenen, leuchtenden Punkt, der scheinbar größer geworden war. Und, sah es nicht so aus, als hätte das Licht eine Art Korona bekommen? Täuschte er sich? Bildete er sich Dinge ein oder gaukelte ihm sein Verstand etwas vor? Marie verschwand fauchend in ihrer Hecke und ließ einen verdutzten Mann zurück.
Peterle war heute nicht da. Das war nicht ungewöhnlich. Ab und an ging er irgendwelchem Katzenbusiness nach und verpasste das knatternde Fanal für das Frühstück. Dafür traf der Mann Blacky. Eigentlich eine sehr junge Wohnungskatze, aber der kleine, pechschwarze Kerl schaffte es wohl immer wieder, auszubüchsen. Dann lag er gegen 4 Uhr vor der Haustüre und kam nicht mehr herein.
Heute wollte der Mann die Zeitung in den Briefschlitz stecken und bemerkte den kleinen, zitternden, zusammengerollten Kater im Hauseingang. Blacky´s Augen waren groß und geweitet, als ob er Angst hätte. Sein peitschender Schwanz verhieß nichts Gutes und der Mann beschloss, den kleinen Kerl in Ruhe zu lassen.
„Was ist hier eigentlich los? Drehen alle durch oder liegt was in der Luft?“ murmelte er, Blacky beobachtend. In gebührendem Abstand legte er ein paar Krümelchen auf die unterste Stufe des Hauses. Beunruhigt verließ er das Grundstück.
Unwillkürlich wanderte sein Blick gen Himmel. War es das Licht, das die feinen Sinne der Tiere durcheinander brachte? Bildete er sich das alles nur ein? Wurde er verrückt und die Tiere reagierten auf ihn?
Die nächste Nacht war wiederum seltsam. Es war kühler geworden. Marie war nicht da. Peterle war nicht da und Blacky hatte wohl Hausarrest. Aber auch die scheue „Rote“ bei Helmsieck´s, Tabby und die sehr junge, weibliche Katze, die um die Kläranlagen schlich und für die er keinen Namen fand, waren nicht zu sehen. Dafür war der Fleck am Himmel anders. Dachte er gestern noch, der Lichtfleck hätte eine Korona, war sie heute deutlich zu sehen. Diese neblige Aura um den, ja was war es eigentlich?, war doppelt so groß wie der leuchtende Punkt selbst. Die ISS konnte das nicht sein, bestimmt nicht. Die Venus dominiert üblicherweise den Osthimmel. Dieses Objekt, was immer es auch war, stand 20° links über dem Polarstern, also im Norden.
Eigentlich musste der Mann dringend schlafen, wenn er gegen 9 Uhr heim kam. Heute jedoch musste er dringend im Internet nach dem Phänomen suchen, das so deutlich zu sehen war und den Katzen offensichtlich Angst machte. Aber er fand nichts. Sogar die Nachtbilder der Sternwarten erklärten Unisono, am Himmel seien Beteigeuze zu sehen, Alpha Carinae und der Jupiter. Allerdings nur mit Spektiven. Er fand ein aktuelles Bild des nächtlichen Nord- Himmels und lehnte sich überrascht zurück. Der so deutliche Fleck war nicht zu sehen. Mit Strg, Alt und Druck kopierte er das Bild in Corel. Das wollte er doch erst einmal sehen. Mit der Vergrößerungsfunktion blies er das Bild auf. Weiter und weiter. Und dann sah er es! Ein kleiner Teil des Bildes war ersetzt worden. Und zwar sehr schlecht ersetzt, denn die Markierungstrennlinie des Ausschneidewerkzeuges ging direkt durch einen Stern. Und halbe Sterne hat das Universum nicht vorgesehen. Er zoomte leicht heraus und entdeckte, dass der halbe Stern und seine Nebensterne direkt neben der überdeckten Zone schon einmal vorhanden war.
Lange saß der Mann da und starrte auf den Monitor. Sein Blick wanderte zwischen dem Handy und dem Monitor hin und her. Zögerlich wählte er, die Sorgenfalten auf seiner Stirn vertieften sich mit jeder Sekunde. Wie in Trance wählte er eine Nummer.
„Leitstelle“ knurrte eine unfreundliche Stimme.
„Einundzwanzigzwölfneunundfünfzig“B“einundzwanzignulleinsvier“ sagte der Mann beinahe tonlos und man konnte ihm ansehen, dass er sich mehr als unwohl fühlte. Seit 12 Jahren hatte er sich vor der Meute verborgen und sie hatten ihn in Ruhe gelassen. Und jetzt fühlte er sich, als würfe er sich selbst den Hunden zum Fraße vor die Füße.
„Identifizierung!“
Diese Stimme war nicht nur unfreundlich sondern herrisch unverschämt.
„Kranich“
Schweigen. Der Mann wusste, dass jetzt eine Maschinerie anlief. GPS- Ortung, Bänder liefen mit und eine zweite Person wurde in die Leitung beordert. Gleichzeitig wurde das SIG alarmiert, die schnelle Interventions- Gruppe.
„Halle Kranich“ antwortete die Stimme weicher und nur scheinbar versöhnlicher „lange nichts von Ihnen gehört“
„Was ist das für ein Ding am Himmel? Wisst ihr was darüber?“
Das war der Knackpunkt. Eine Organisation innerhalb einer Organisation aus Deutschland, deren Lebensversicherung darin bestand, immer alles über alles und alle zu wissen, konnte das Phänomen gar nicht ignoriert haben. Selbst wenn es ein abstürzender Satellit war, wüssten die das. Das bedeutete, antwortete der Sektionsleiter abwiegelnd oder ausweichend, bestand keine Gefahr. Würde er ausschweifend und detailliert auf das Phänomen eingehen, wusste er selbst nichts davon und musste Zeit schinden, um seinem Stab, der garantiert mit mindestens 6 Mann um ihn herum wimmelte, Zeit zu verschaffen.
Und je kategorischer er das Phänomen negierte, desto höher war das Gefahrenpotenzial.
„Was für ein Ding Kranich? Wir wissen von Nichts!“
Leute, wie ich bereits schrieb, habe ich mich festgeschrieben. Nach dem 9ten Lesen allerdings bekomme ich allmählich Morgenluft und möchte noch einmal danken für die vielen Tipps.
Ein weiterer Punkt jedoch ist, dass es alles andere als eine Kurzgeschichte ist und ich frage mich, ob ich die folgenden Teile noch abstellen soll.....
Unabhängig davon ist Kritik, Verbesserung und Anmerkung deutlich erwünscht
Tom