Stunde um Stunde verging. Im Stollen wurde es wärmer, dennoch war es Margot kalt. Sie fror unerbittlich, erfror in ihrer Angst vor dem Fremden, hier fern der Heimat in einem namenlosen Bunker bei unbekannten Menschen zu sein. Das Mädchen dachte an den kleinen Bruder, das niedliche Baby, der zuhause bei der Mutter bleiben durfte, weil er noch gestillt wurde. Tief in ihrem Inneren beneidete sie das Baby, diesen kleinen Bruder, von dem sie sich verabschieden wollte und dafür von der Mutter geschlagen worden war. Niemals durfte sie den Kleinen auch nur anfassen, ihn streicheln, denn Mama dachte, sie würde ihm wehtun. Heftig blinzelte sie die Gedanken daran weg, die Trauer, denn sie wollte dem fremden Mann nicht zeigen, dass sie Gefühle hatte. Keine Regung wollte sie von sich geben, einfach mitgehen und dann würde sie wieder von Mama abgeholt werden. Mama würde sie holen und auch Gerda. Sie würden beide abgeholt werden und wieder zusammen in Berlin sein. Jawohl, dachte sie.
Endlich wurde Entwarnung gegeben und der Bunker begann sich zu leeren. Zitternde Menschen entströmten ins helle Licht des Tages, der ebenso kalt war wie der vergangene, die Nacht war also herum.
„So, schnö jetzat, Mädal. Da Weg is nu weit“, murrte der Greinsbauer, packte Margot am Handgelenk und es ging weiter auf den Hauptplatz zu und dann über die Nibelungenbrücke über die Donau, vorbei an Soldaten, Frauen, Kindern, Autos, Arbeitern. Eine Straßenbahngarnitur überholte sie ratternd und steuerte auf den Bergbahnhof zu. Neugierig schaute Margot hinterher. Sie hatte nicht gedacht, in dieser Provinzstadt so etwas zu finden. Für sie war Berlin der Nabel der Welt. Nein, nicht einmal Berlin, nur der Stadtteil, wo sie aufgewachsen war. Neukölln. Nein, auch das war unwichtig. Das Haus in der Rollbergstraße, dorthin wollte sie. Die kleine Wohnung, die spielenden Kinder auf der Straße. Schreien. Toben. Blinzelnd folgte sie dem Greinsbauern, den kleinen Pappkoffer in der Hand haltend, der ihr mit der Zeit immer schwerer wurde.
Nachdem sie die Donau hinter sich gelassen hatten, ging es weiter, vorbei an einer kleinen Kirche, gewundene Straßen hinauf auf einen Hügel. Margot achtete nicht auf den Weg. Sie war mit ihren Gedanken woanders, bei Gerda und bei Mama, zuhause bei Karl, dem Baby. Papa kannte sie kaum, doch auch an ihn dachte sie, während sie durch den festgefahrenen Schnee stapfte, den wohl ein Panzer platt gedrückt hatte. Der Greinsbauer fluchte unterdessen in einer Art und Weise, die das Mädchen noch mehr verängstigte.
„I bring di zur Lechnerin. De nimmt si um die au. Oiso, des is a Nette, sei brav und du muasst die ned vor ihr fiachtn. In a poar Wochn geht’s eh wieda ham, goi, Mädl“, redete er in dieser für Margot unverständlichen Sprache dahin, nachdem er das Fluchen endlich beendet hatte. Die Lechnerin also, dachte Margot. Wer das wohl sein mochte und warum sie nicht von der Frau selbst abgeholt worden war, gab ihr neuen Stoff zum Nachdenken.
Der Tag zog sich hin. Gegen Mittag machten sie Rast an einem Marterl, einem Bildstock, der die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind im Arm zeigte. Der Mann machte ein Kreuzzeichen, stieß Margot mit dem Ellbogen an, es ihm gleichzutun. Scharf blickte er das verschreckte Kind an, bis diese endlich verstand, was er wollte und sie sich auch bekreuzigte. Zufrieden nickte er. Einige Worte, die Margot noch unverständlicher als sein übliches Kauderwelsch blieben, sprechend, nahm er den Rucksack ab und packte einen Kanten Brot und ein Stück Speck aus. Dazu kamen noch eine Flasche und Messer. Von Brot und Speck schnitt er etwas ab und reichte davon Margot, die es nur zögernd nahm. Vorsichtig biss sie ab und merkte erst jetzt, wie hungrig sie war, denn sie hatte seit dem Mittag des Ankunftstages in Linz nichts mehr gegessen. Also schlang sie Brot und den ungewohnten Speck hinunter, bis der alte Mann zu lachen anfing. „Nau, du host owa an Hunga, Dirndl“, meinte er grinsend, öffnete die Flasche und tat einen großen Schluck daraus bevor er die Öffnung abwischte und sie auch Margot reichte. Durstig wie sie war, trank sie daraus und erkannte, dass es ihr nicht schmeckte. Die Flasche enthielt Most, ein ihr unbekanntes Getränk. Abermals lachte der Alte als sie das Gesicht angewidert verzog. „Kaunst ned redn? Daun wiast as schwa haum bei da Lechnerin, goi“, redete er weiter, nahm die Falsche zurück, stopfte den Korken darauf und verstaute sie wieder im Rucksack. Gemächlich aß er nun Brot und Speck, wobei er sich umschaute und ab und zu mit den Füßen, die in schweren Stiefeln steckten, aufstampfte, dass der Schnee nur so wegspritzte. „Nau guat, daun genga ma weida“, meinte er verdrießlich als sie das für damalige Zeiten üppige Mahl beendet hatten. „Do“, sagte er noch und reichte Margot einen schrumpeligen Apfel, den er aus der Manteltasche gezogen hatte. Das Mädchen verbiss sich ein Lächeln, sie wollte ihm nicht zeigen, dass sie sich darüber freute, nahm das Obst und biss hinein. Sie war wirklich hungrig, aber der Hunger, der in ihrem Inneren nagte, den konnten weder Speck, Brot noch Apfel stillen. Sie wollte nachhause.
Doch zunächst ging es weiter die hügelige, von tiefem, im blassen Sonnelicht glitzerndem Schnee, bedeckten Landschaft. Nur wenige Leute waren unterwegs. Erst als sie dem Dörfchen näher kamen, schauten auch einige Leute aus den Häusern, aus deren Schornsteinen, wie einladend, der Rauch aufstieg. In weißen Wolken zog er über das Dorf dahin und verschwand dann mit dem hellen Blau des Himmels. Margot wollte das nicht sehen, sie schaut zu Boden als der Greinsbauer vor einem Haus hielt, sie vor sich schob und die Tür öffnete.
„Lechnerin! Mia san do!“, brüllte er, kaum dass er Margot über die Schwelle geschoben und selbst eingetreten war. „Putzt’s eich de Schuach o!“, kam es aus einem Raum links neben der Haustür. Dann erschien sie.
Sepp Greinsbauer beachtete sie nicht weiter, stampfte einmal kräftig mit seinen Füßen auf und gab dem schüchtern zu Boden blickenden Mädchen einen Schlag zwischen die Schulterblätter. „Nau geh“, sagte er dazu, nur um sie gleich auf die Frau zuzuschieben. „Aha“, war zunächst alles, was Frau Lechner sagte. Sie beäugte Margot gründlich, schnaubte einige Male verächtlich. „Kumm mit, Greinsbauer. Des Mensch kaun do woartn“, sagte sie, reichte dem alten Mann die Hand und ging in die Stube voran aus der sie vorhin gekommen war. Margot wurde allein gelassen. Kummervoll und halb erfroren blickte sie weiter auf den Steinboden. Sie betrachtete die abgetretenen Steinfliesen, deren Rot sie an rohes Fleisch erinnerte, tote Tiere. Gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfend blinzelte sie und stellte schließlich den Pappkoffer ab. Mit der Zeit wurde sie neugierig und versuchte zu lauschen, dabei schaut sie sich das erste Mal in diesem fremden Haus um, das wohl für die nächsten Wochen so eine Art zuhause für sie werden sollte. Sie hoffte, dass diese Zeit bald vorbei sein würde und sie wieder den kleinen Karl herzen konnte. An nichts anderes als ihren Bruder und die Schwester konnte sie denken. Mit vor ungeweinten Tränen blinden Augen starrte sie den rauen Putz an den Wänden an, sah die Bilder von Jagden und die dazugehörenden Trophäen an den Wänden, Rehgeweihe. Eine unzählige Reihe von Geweihen, viel zu viel, um sie zu zählen. Die gehörnten Schädel, schienen Margot auszulachen. Zitternd wandte sie den Blick wieder ab und schaute auf ihre Schuhe. Ihre Füße waren nass und sie fühlte die Zehen kaum noch, doch war sie hier aus dem Schnee und dem Wind, was schon besser war.
Endlich kam die Frau zurück und mit ihr der Greinsbauer. „Pfiat di“, sagte er, zog die Tür auf und verschwand im sterbenden Licht des Tages. Margot schwieg während die Lechnernin fluchend die Tür schloss und somit Wind, Wetter und Dämmerung aussperrte.
„I bin de Lechner Liesl. Du kaunst Muatta zu mia sogn“, sagte sie betont freundlich, was Margot aber im Moment nicht auffiel. Sie verstand nichts von dem was die Frau von sich gab, nur den Namen, also nickte sie und blieb weiterhin stumm. „Host an Hunga? Host an Durscht? Awa i glaub, dia is koid. Kumm mit.“ Liesl versuchte wirklich freundlich zu dem Kind zu sein, schließlich hatte sie sie angenommen, weil sie selbst keine Kinder hatte und das Amt war so freundlich gewesen, ihr eine Helferin zuzusprechen. Als diese wurde ihr Margot auch angepriesen, doch dieses Kind war … war eben ein Kind, ein Stadtkind noch dazu. Und womöglich sogar schwachsinnig. Seufzend griff sie nach dem Koffer, was Margot dazu veranlasste, ihn schnell zu ergreifen und an sich zu pressen. „Du dumme Kuah, i wü dan jo ned nehma“, herrschte sie das Mädchen an, zuckte dann allerdings mit den Schultern und ging voran in die Stube. Jetzt endlich hob auch Margot den Kopf und starrte auf den Rücken der Frau von mittlerer Größe, deren massiger Leibesumfang Margot erschreckte. Sie steckte in einem Dirndlkleid, trug dicke Wollstrümpfe und schwere Pantoffeln, mit denen sie nun aufstampfte, als Margot ihr nicht folgte. Sie drehte sich herum und funkelte das Kind zornig werdend an. Diesen Ausdruck kannte Margot. So ging sie langsam hinter der fremden Frau her und betrat zögernd die Stube. Erstaunt schaute sie sich um.