Kann Landschaft heilen?
Weg, auf jeden Fall weg, weit weg. Und nicht der süßliche Süden, keine Traumstrände, Trauminseln, Traumferien.
Nachdem Luise fast alle Traumblasen geplatzt waren, hatte sie genug davon, sich irgend etwas vormachen zu lassen oder sich selbst zu besäuseln. Sie wollte Ehrlichkeit, auch in der Landschaft, pur und schnörkellos
Palmen, Lampions, Cocktails und Urlaubsflirts gehörten der Vergangenheit an.
So sitzt sie nun schon den zweiten Tag am Steuer ihres kleinen Opels und fährt auf der Route National 12 an Morlaix vorbei. Die Landschaft der Bretagne umfängt sie mit dichtem Grün, auf dem immer wieder Kühe grasen. Ab und an Gehöfte aus grauem Stein.
Sie sehnt das Meer herbei.
Endlich der letzte Ort vor der Küste, die sich noch immer hinter leichten, grünen Erhebungen verbirgt.
Kerlouan, eine Hauptstraße, zwei Kirchen, zwei Bankfilialen, ein Bäcker – am Ende ein Supermarkt. Erleichtert nimmt Luise das Fehlen jeder Touristenorientiertheit wahr.
Noch ein paar Kurven und dann die grasbewachsenen Dünen – dahinter ein Streifen blaugraues Wasser.
An der Küstenstraße liegen ein paar Häuser; an der Mülltonne soll sie abbiegen, das dritte ist das Haus, das sie gemietet hat.
Madame Ullois steht davor, um ihr aufzuschließen. Luise hat ihr telefonisch ihre Ankunftszeit mitgeteilt. Luise spricht kaum französisch, Madame kein deutsch. Also verständigen sie sich mit Zeigen, Nicken, Lächeln.
Das kleine Haus ist das typische Steinhaus für die Gegend, mit dem breiten Kamingiebel, den man auch in den Landhäusern auf der britischen Seite des Kanals findet. Wohnraum und Küche nehmen die Grundfläche des Hauses ein, im Dach sind zwei Schlafräume mit Gaubenfenstern, die auf die Felder im Inland zeigen. Daneben ein Bad mit Dusche. Luise nickt zustimmend.
Madame Ullois lächelt noch einmal und übergibt Luise den Schlüssel.
Luise holt nur ihre Jacke aus dem Auto, denn der Wind ist trotz Sonnenschein empfindlich kühl, und stapft zur Düne.
Endlich der Blick, auf den sie so gewartet hat: Ein breiter Streifen heller Sand, kleine Haufen dunklen Tangs, einzelne große Granitbrocken im Wechsel mit langen Geröllfeldern, dazwischen Buchten mit trocken gefallenen Fischerbooten und das graublaue Meer. Ein endloser Horizont.
Sie ist angekommen – und sei es auch nur, weil es nun an diesem Strand nicht mehr weitergehen kann. Ab jetzt kommt nur noch Meer; keine Inseln, keine Fähren, keine Orte für ein Weiter.
Finistére, lands end.
Das passt, denkt Luise, und läuft den harten Ebbestrand entlang, klettert auf Felsen und lässt ihre Augen die Weite genießen.
Nach ein paar Stunden ist sie müde, vom Laufen und Schauen, vom Atmen, und kehrt zum Haus zurück.
Sie packt ihre Taschen aus und bezieht ihr Bett. Sie hat das Zimmer mit einer Tapete gewählt, auf der hellblaue Segelboote in Reihen die Wände entlang schweben – ein Kinderzimmer.
Das andere hatte aufdringliche Rosen als Dekor, das war ihr zu bunt.
Sie schläft eine Stunde, dann fährt sie noch einmal nach Kerlouan, um im Supermarkt einzukaufen.
Wieder zuhause – Luise nennt die Ferienhäuser, die sie bezieht, immer gleich „Zuhause“- kocht sie sich einen Kaffee und geht dann noch einmal ans Meer.
Graue Wolken sind aufgezogen, durch die an manchen Stellen die Abendsonne bricht. Mit der Flut ist auch die Brandung stärker geworden und einige Wellenreiter tummeln sich in dunklen Neoprenanzügen in den Wellen. Von fern sehen sie aus wie große schwarze Wasservögel.
Luise geht fröstelnd zurück. Sie kocht sich Spaghetti und entfacht ein Feuer im Kamin. Als sie unter einer Decke auf der Couch die Flammen betrachtet, breitet sich ein seltsames Gefühl von Heimat in ihr aus.
Hier und jetzt, an einem fremden Ort, der kühl und einsam ist, fällt etwas von ihr ab, was ihr die Luft zum Atmen genommen hatte: Das Leben war in den letzten Monate mit so vielen Forderungen an sie herangestürmt, dass sie nur noch reagieren konnte, nicht mehr selbst bestimmen - weder Tempo noch Inhalt.
Die einzige Möglichkeit war diese Flucht gewesen.
Und nun ist sie hier: in der Stille, die durch das Knacken des brennenden Holzes und das Geräusch des Windes draußen noch verstärkt wird. Abgetrennt von der Welt und dafür umso mehr bei sich.
Sie atmet tief durch.
Morgen wird alles genauso sein: ihr kleines Haus, die weite Landschaft, die Ruhe und die Freiheit, einfach nur zu sein.
Der Gedanke macht Luise lächeln.
©tangocleo 2012