Der tägliche Weg
Der tägliche WegMorgens auf dem Weg zur Arbeit, sehe ich sie jeden Früh in der Bahn. Sie gefällt mir ausgesprochen gut und so manche Nacht geistert sie durch meine Träume. Fasziniert bin ich von ihren wunderschönen Augen, das Blau so leuchtend wie das Meer. Umrahmt wird ihr liebliches Gesicht von langen Haaren in einem tiefen schwarz, die bis zum Becken reichen.
Heute sitzt sie mir genau gegenüber, nicht mal ein Meter trennt uns voneinander. So nah waren wir uns noch nie, das verhilft mir zu einer inneren Unruhe. Sonst kann ich meinen verstohlenen Blick nicht von ihr lassen und heute? Heute komme ich mir vor wie ein Teenager und schaue leicht verschämt aus dem Fenster.
Hatte sie sich vorhin nicht ganz bewusst den Platz ausgesucht? Wir sind an der Endstation eingestiegen. Der Waggon war kaum gefüllt, außer uns beiden waren noch vier andere Personen anwesend. Und sie? Sie hat sich umgesehen und dann den Platz mir gegenüber gewählt.
Geht es ihr vielleicht ähnlich wie mir? Interessiert sie sich vielleicht sogar für mich? Verspürt sie auch diese Anziehungskraft und dieses Kribbeln im Bauch? Fragen über Fragen und ich weiß keine Antwort darauf.
Ich schaue aus dem Fenster und spüre wie ihr Blick auf mich gerichtet ist. Ich drehe meinen Kopf und sehe in ihre Augen. Diesen bohrenden Blick kann ich nur wenige Sekunden Stand halten. Ich muss wieder aus dem Fenster schauen.
Wie zufällig berührt sie mich mit ihrem Fuß, als sie die Beine übereinander schlägt. Ich blicke zu ihr, ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Ich habe unverzüglich Schmetterlinge im Bauch, mit einem Strahlen in den Augen lächle ich scheu zurück. Sie lässt ihren Blick nicht von mir, ich merke wie mir warm wird und das Blut in den Kopf steigt. Verlegen schaue ich zu Boden.
Mein Blick wandert zwischen ihr, dem Fenster und dem Boden hin und her. Sie lässt mich nicht einen Moment aus den Augen, das war sonst nie so. Ich rutsche unruhig auf dem Sitz herum. Noch wenige Stationen, dann steigt sie aus. Ich werde langsam nervös, so unablässig hat mich noch nie jemand beobachtet.
Gleich muss sie raus, werde sie wohl erst morgen früh wiedersehen, auf dem Heimweg bin ich ihr noch nie begegnet. Sie greift ihre Tasche, als sie sich beim Aufstehen vorbeugt, passiert es. Sie rückt mir einen kleinen Zettel in die Hand und flüstert mir zu: „Süße, ich bin schon lange scharf auf Dich. Ruf mich gegen Mittag an!“
Mir klappt die Kinnlade runter, bin vollkommen verdutzt und kriege nur ein gestammeltes „Ist gut“ über die Lippen. Mit wippenden Hüften verlässt sie den Zug. Ich schaue ihr entgeistert nach. War das eben ein Traum oder Realität?
© majberlin im September 2012