Hilfe
November. Kalt und neblig lagen die Straßen vor Paul. Er war zu spät und musste sich sputen, um noch einigermaßen pünktlich zu sein. Der neue Job machte ihm Spaß, auch wenn ihm noch ein wenig die Routine fehlte. Außerdem wollte er einen guten Eindruck machen, daher kam für ihn zu spät kommen nicht in Frage.Paul schlug seine Hände zusammen um die Durchblutung anzuregen, doch die klamme Kälte schien tief in seinen Körper zu kriechen. Kleine Dampfwolken bildeten sich, als er ausatmete und er zog den Schal enger um den Hals und vergrub seinen Unterkiefer in der weichen Wolle.
Ein kurzer Blick nach links und rechts, und schon huschte er über die verlassene Hauptstraße. Im nassen Asphalt spiegelten sich die Lichter der Straßenlaternen, tauchten die Welt in ein schmutzig gelbes Licht. Die Leuchtreklame eines kleinen Ladens flackerte grün –gelb-grün, im steten Rhythmus. Die Lampen summten leise im Takt, als Paul daran vorbei eilte. Noch schnell um die Ecke, dann stand er vor der Tür. Seine kalten Finger tasteten steif nach dem Schlüssel, der sich nur zaghaft überzeugen ließ, ins Schloss zu gleiten um es zu öffnen.
Er trat ein und schloss die Tür. Sofort umfing ihn mollige Wärme, gedämpftes Licht und der schwache Geruch nach frisch gebrühtem Tee. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Schnell pellte er sich aus seiner Jacke, zupfte den dicken, gestrickten Pullover zurecht, schlupfte aus seinen feuchten Turnschuhen und tauschte diese gegen die großen Filzpantoffeln. Nun war er zufrieden. Er huschte in die Teeküche, griff nach einem der großen Teebecher und goss aus der Kanne, die auf dem Stövchen stand, seinen Becher randvoll. Zwei Stück Würfelzucker, umrühren und auf den leisen Filzsohlen ging er in sein Arbeitszimmer. Rabea wartete bereits auf ihn.
„Hallo Paul“, lächelte sie, „ruhiger Abend heute, komm setz dich“. Paul lächelte und nahm ihr gegenüber am Schreibtisch Platz. Er pustete in den Becher und sah den heißen Dampfwolken zu, die sich über dem Tee bildeten. Vorsichtig nippte er an dem kräftigen Gebräu und spürte wie ihn eine wohlige Wärme erfüllte.
„Ah, tut das gut“, grinste er und blickte Rabea an.
„Ich wusste, du könntest etwas Warmes gebrauchen. Bei diesem Wetter freut man sich über das geringste, was einen aufbauen kann“.
„Ja, ich weiß, was du meinst. Vielen Dank für den Tee. So. Ruhig ist es heute? Nun, dann kannst du ja beruhigt Feierabend machen, ich löse dich nun ab. Wir sehen uns dann morgen“, meinte Paul und stellte seinen Becher ab. Er griff nach dem Headset und zog es sich über die Ohren. Trotzdem konnte er Rabea verstehen, die ihm ebenfalls einen schönen Feierabend wünschte, ihm noch kurz zuwinkte und das Büro verließ.
Er spürte, wie sich sein Körper erwärmte, seine Muskeln lockerer wurden. Der PC fuhr hoch und er loggte sich in das Programm ein, das ihm den Zugriff auf die Protokolle der letzten Tage ermöglichte. Wie immer öffnete er ein leeres Dokument, von dem er hoffte, er müsse es nicht ausfüllen. Er surfte daher gedankenverloren im Internet und vergaß die Zeit.
Als sein Headset den Anruf ankündigte, zuckte er zusammen und versuchte durch langsames Atmen seinen Schreck und sein Herzklopfen abzumildern. Er räusperte sich und betätigte den grünen Annahmeknopf.
„Hallo, hier ist Paul. Mit wem spreche ich denn?“, lächelte er in das kleine Mikrofon, das vor seinen Lippen auf und ab wippte.
Paul wusste, dass, wenn er beim Reden lächelte, seine Stimme lockerer und freundlicher klang. Das wurde ihm während des Lehrgangs beigebracht. Auch, dass oft eine Pause entstehen würde, nachdem er sich gemeldet hätte. Viele Anrufer verließ der Mut. So war es auch hier. Paul hörte ein Atmen am anderen Ende der Leitung und zählte bis 10. ‚Eins, zwei…‘ wenn er bei 10 angekommen wäre, würde er erneut nachfragen. Als er acht erreichte, vernahm er ein leises „Hallo.“
„Hallo“ erwiderte er sanft, „möchtest du mir deinen Namen verraten?“
Diesmal war die Pause schon kürzer.
„Jana“, flüsterte sein Gegenüber.
„Jana, wie geht es dir?“, fragte Paul leise zurück. Sein Blick glitt ins sanfte Dämmerlicht seines Büros und er lehnte sich zurück. Noch wartete er ab, das Anruferprotokoll auszufüllen.
„Nicht gut“, kam die Antwort, unterlegt mit einem Schluchzen.
„Magst du erzählen, Jana? Vielleicht damit, wie alt du bist? Wo wohnst du?“
„Fünfzehn, und ich wohne in der Wesergasse 3“, kam knapp zurück.
„Bist du allein zu Hause? In die wievielte Klasse gehst du denn?“, wollte Paul wissen, als Einstieg in das weitere Gespräch, das sich entwickeln sollte.
„Mein Vater hat sich umgebracht“, schluchzte Jana.
Jetzt war Paul elektrisiert und richtete sich auf. Schnell tippte er Datum, Uhrzeit und noch einige Daten in das Protokoll, während er weiter sprach.
„Das tut mir leid, Jana. Hör mir zu Jana. Schau bitte einfach mal zur Decke, schau nach oben zur Lampe, okay?“ forderte Paul. Er hatte gelernt, dass diese Bewegung, den Kopf zu heben, den Blick nach oben zu richten, die Stimmung aufhellen konnte. Meist funktionierte dies hervorragend und das Gespräch verlief dann entspannter, bzw. öffneten sich die Anrufer danach meist mehr als vorher.
„NEIN“ rief Jana verzweifelt, „auf keinen Fall!“
Diese heftige Reaktion irritierte Paul. Das war ihm in den letzten Wochen, die er hier war, noch nie passiert. Eine leichte Unsicherheit wollte seinen Rücken hinaufkriechen, doch er straffte sich und schüttelte dieses unangenehme Gefühl ab.
„Gut. Du musst das jetzt nicht tun, Jana“, besänftigte er.
„Außerdem sitze ich in der Ecke auf dem Boden. Mein Kopf liegt auf meinen angezogenen Knien. Ich schaue genau auf die Ecke und werde auch nirgendswo anders hinsehen.“
Paul bemerkte die verzweifelte Entschlossenheit in Janas Stimme, doch war er ebenfalls entschlossen, damit das Gespräch weiterlaufen konnte wie er es gelehrt bekam, Jana mit der Zeit dazu zu bringen, doch noch den Kopf zu heben. Er stellte sie sich vor. Zusammengekauert in einer dunklen Ecke, verweinte Augen, strubbeliges Haar und ein kleines Häufchen Elend, sich selbst umarmend, das Hilfe brauchte.
„Bist du denn ganz allein? Ist deine Mutter nicht bei dir, oder deine Geschwister?“
Paul wollte auf diese Weise mehr herausbekommen, in welchem Umfeld sich Jana befand.
„Meine Mutter ist auch tot. Geschwister hab ich nicht“, hauchte Jana.
Jetzt musste sich Paul konzentrieren.
„Du bist ganz allein? Wer ist denn jetzt bei dir?“
„Allein. Mein Papa ist tot. Er hat sich umgebracht. Einfach so. Warum lässt er mich allein? Hat er denn gar nicht an mich gedacht? Wie konnte er nur so egoistisch sein?“, weinte Jana.
Paul war froh, dass sie ihren Schmerz in Worte packte. Diese Fragen waren nicht neu für ihn. Die Hinterbliebenen stellten sich alle diese Fragen. Egal ob jemand eines natürlichen Todes gestorben war oder sich selbst umgebracht hatte. Früher oder später käme dann die Wut dazu, die helfen würde, mit der Trauer umzugehen, bis dann endlich das Akzeptieren eintrat. Doch bis dahin war bei Jana noch ein langer Weg. Sie war noch so jung.
„Jana, beschreibe mir doch bitte mal die Lampe in dem Zimmer, in dem du grade bist, ja?“ bat Paul.
„NEIN“, kam von Jana panisch zurück.
Paul stutzte. So resolut hatte sich noch niemand verhalten. Mit leicht zitternden Händen ergriff er seinen Teebecher und nahm einen Schluck. Der Tee war inzwischen nur noch lauwarm und schmeckte bereits ein wenig bitter.
„Kannst du mir verraten, weshalb du es nicht möchtest?“, versuchte er herauszufinden.
„Ich will es einfach nicht, klar?“, antwortete sie trotzig, wie es nur Pubertierende zustande bekamen.
„Wo bist du denn jetzt, Jana?“
Paul versuchte, das Gespräch in Fluss zu halten. Bis jetzt hatte sich Jana noch nicht wirklich geöffnet. Es raschelte leise am anderen Ende, so dass er schon befürchtete, sie würde einfach auflegen.
„Alles ok?“, schob er schnell hinterher und bemühte sich, nicht hektisch zu klingen.
„Ja. Ich musste nur mal das Mobilteil in die andere Hand nehmen. Mein Arm ist eingeschlafen“, murmelte sie.
Erleichtert seufzte Paul auf.
„Das kenn ich, passiert mir auch öfters“ versuchte er locker einzuwerfen, doch es gelang ihm nicht wirklich.
Immer mehr beschlich ihn das Gefühl, dass Jana die Karten in der Hand hatte, dass sie das Gespräch führte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Daran würde er im nächsten Lehrgang noch arbeiten müssen.
„Jana, wie kann ich dir denn helfen?“ und schon während er dies fragte, biss er sich auf die Lippen. Wie konnte er nur so bescheuert sein. Wenn jemand bei ihm anrief, wollte er nicht gefragt werden, wie man ihm helfen könne, sondern erwartete Hilfe.
Schweiß brach ihm aus allen Poren, plötzlich wurde es viel zu heiß in seinem Büro. Noch immer schwieg Jana. Paul rutschte hin und her, nestelte nervös an seinem Headset und suchte verzweifelt in älteren Protokollen nach Tipps, wie er sich nun am besten verhalten konnte.
Nach einer langen Pause, die ihm vermutlich länger vorkam als sie wirklich war, hörte er Jana weinen.
„Oh Jana, bitte, nicht weinen. Glaube mir, es wird alles wieder gut werden“, stieß Paul hervor. Diese abgedroschenen Phrasen waren das einzige, das ihm momentan einfiel. Er fühlte sich so hilflos wie noch nie. Versagensangst kroch in ihm hoch.
„Mir kann niemand mehr helfen. Ich will nicht so allein weiterleben. Ohne jemanden, der für mich da ist, der auf mich aufpasst…“ weinte Jana in den Hörer.
Paul bekam eine Gänsehaut als er sich dies vorstellte. Wie einsam und verzweifelt sie sein musste.
„Es gibt einen Weg. Dir wird geholfen. Du wirst nicht allein gelassen, es wird weitergehen, Jana. Deine Freunde sind für dich da“, selbst für ihn klang dies absolut jämmerlich. Paul fühlte sich so hilflos. Am liebsten hätte er Jana in die Arme genommen und ihr gezeigt, dass sie nicht allein war.
„Ich habe keine Freunde. Hier nicht. Wir sind erst neu hergezogen“ presste Jana hervor, mit einem leichten Unterton, den er als Wut deutete. „Mein Vater meinte, es wäre das Beste, wenn wir von allem Alten weggingen. Weg von allen Erinnerungen an Mama und so. Außerdem wurde er versetzt, auf der Arbeit. Jetzt wohnen wir direkt bei der Arbeit“, erzählte sie weinend.
Leise versuchte Paul auszuatmen. Er hatte unbemerkt die Luft angehalten, als er ihr zuhörte. Ein wenig schnaufend meinte er:
„Du wirst bestimmt Freunde finden. In der Schule geht dies meistens schnell. Du bist doch ein kluges Mädchen“ versuchte er sie aufzumuntern.
„Sie hassen mich. Alle lachen mich aus, niemand möchte mit mir etwas zu tun haben. Nur weil ich vom Land hier her gezogen bin. Ich bin ein Bauerntrampel. Das bekomme ich jeden Tag in der Schule zu hören“, schluchzte Jana weiter.
Mobbing - fiel Paul spontan ein. Auch das noch. Würde denn Jana wirklich nirgends aufgefangen?
Er lauschte dem Schluchzen von Jana, bis es leiser wurde. Dann wagte er erneut den Versuch.
„Jana, pass auf. Bestimmt lässt du grade den Kopf hängen, stimmt‘s?“
Ein Rascheln deutete er so, dass Jana wohl nickte.
„Ich möchte jetzt einfach, dass du nach oben schaust, Jana“
„Wieso denn?“, fragte sie resigniert zurück.
„Es wird dir bestimmt besser gehen. Glaub mir, Jana. Tu es doch einfach für mich“ bat er.
„Wenn ich es doch aber nicht will?“, fragte sie zurück und er spürte, wie ihr Widerstand schmolz. Schon schöpfte er Hoffnung, dass er ihr nun endlich helfen konnte, nicht zu sehr in ein Loch zu fallen.
Mit sanfter Stimme sprach er weiter: „Ich weiß, dass es dir helfen wird, diese Erfahrung habe ich gemacht und ich möchte dir damit doch nur guttun. Also, wirst du es jetzt tun? Schau einfach nur hoch zur Decke, Jana, okay?“
Mit dem was nun folgte, hatte Paul nie und nimmer gerechnet. Ein lauter Schrei gellte durch die Kopfhörer seines Headsets, dass seine Ohren klingelten. Gleichzeitig schepperte es am anderen Ende der Leitung, als ob Jana den Hörer fallengelassen hätte.
„JANA?“, brüllte Paul in sein Mikro. „JANAAAAAAAAAAA?“
Schweigen. Totenstille. Die Verbindung war abgebrochen.
Hastig, voller Panik suchte Paul nach der Nummer des zuständigen Polizeireviers und tippte mit zittrigen Fingern die Nummer.
Auszug aus der Allgemeinen Zeitung am folgenden Tag:
„Hauptkommissar Römer, der am gestrigen Tage zu einem Notfall durch einen Mitarbeiter der Telefonseelsorge für Jugendliche gerufen wurde, befindet sich derzeit noch immer in Gesprächen mit einem Polizeipsychologen.
Seinem Bericht zufolge, musste die Wohnungstür am vermuteten Notfallort aufgebrochen werden. Auf mehrmaliges Klingeln und Rufen erfolgte keine Reaktion, daher stürmten mehrere Beamte die kleine Wohnung im ersten Stock des Mehrfamilienhauses in der Wesergasse.
Sofort sei Hauptkommissar Römer der typisch stechende, Übelkeit verursachende Geruch aufgefallen, der die Beamten des 3. Reviers, direkt zum Auffindeort führte.
Die Leiche des 45-jährigen Dachdeckers, Walter P., hing an einem Strick, der am Deckenhaken der Lampe befestigt war und bot einen schrecklichen Anblick. Die Verwesung war bereits stark fortgeschritten.
Seine 15-jährige Tochter, Jana P., lag zusammengekrümmt in einer Zimmerecke. Mit starrem Blick auf ihren Vater, in einer beachtlichen Blutlache. Der anwesende Notarzt bemühte sich, das noch schwach atmende Mädchen zu retten, doch jede Hilfe kam hier zu spät.
Das verzweifelte Mädchen hatte sich die Pulsadern mit Hilfe von Rasierklingen aufgeschnitten.
Das zerbrochene Mobilteil des Haustelefons lag nur wenige Zentimeter von ihr entfernt.
Über die Gründe dieser bedauerlichen Verzweiflungstaten lässt sich derzeit nur mutmaßen.“
© Lys 09/2012