Besonders, dank seiner Makel
~ Besonders, dank seiner Makel ~In einer Welt, die es morgen schon nicht mehr geben könnte, lief ein Junge um sein Leben.
In Knechtschaft wurde er geboren. In Gehorsamkeit musste er aufzuwachsen. In Anpassung schien der Weg zu liegen. Die Hiebe, die die vorgefundene Welt austeilte, hinterließen tiefe Striemen auf dem Gemüt, und Narben in seiner Seele.
Doch jeden Morgen stand er erneut auf und ging frischen Mutes dem Tag entgegen. Ein zermürbend anmutendes Spiel, jeden Tag aufs Neue.
Im Kollektiv hatten sich die Menschen entschieden, Frondienst zu leisten. Steuern, Inflation, Börsenkurswahn, Urlaubsbilderwettbewerbe - alles schien dafür gemacht, dem Menschen ständige Gefolgschaft abzuverlangen. Die Rechnungsberge wurden nur noch von dem alles vor sich her treibenden Werbeaufruf zu konsumieren überragt. Wie unüberwindbare Gebirge kam ihm alles vor.
Einzelne schienen dem alles dominierenden System eine letzte, mächtige Waffe entgegenhalten zu wollen. Entspannungsstimulanzien. Alkohol und Marihuana waren da noch die harmlosesten. Für die Meisten jedenfalls. Der Junge versuchte sich ebenfalls daran, verwirrt von einer ehrlos und das Selbst zerstörerisch scheinenden Welt, deren Diktat sich nicht erst die Elterngeneration unterworfen hatte. Fast willenlos.
Doch der Weg führte unweigerlich in eine weitere Hölle. Gepeinigt von Einsamkeit verliess er die ihm inzwischen halbwegs vertraute Welt, und stieg hinab in die Dunkelheit der reinen Gedankenströme. Ein Wahn jagte den anderen. Mit der Zeit hatte die Krankheit, die, wie ihm schien, so viele befallen hatte, auch ihn in ihrem Würgegriff. Ungefühlte Tage, Wochen und Monate folgten einer klaren Richtlinie. Knechtschaft durch Sucht.
Eines Tages aber trat ein kleines Licht in die Dunkelheit. „Komm, ich weise dir den Weg!“
Der Junge, erschrocken und beglückt zugleich, wollte Vertrauen fassen, konnte es aber nicht.
Das Licht mahnte ihn: “Selbst wenn ich lügen würde, so ist doch jeder Ort heller als dieser. Also komm. Es gibt nichts zu fürchten!“
Da rappelte sich der junge Bursche hoch, und stand, wie ihm plötzlich schien, zum ersten Mal im Leben auf seinen eigenen Beinen. Noch wackelig, doch voll neu entflammten Tatendrangs.
Und - er spürte sich. Und auch die unbändige Kraft, die in seinem Körper pulsierte.
„Sei behutsam. Es ist noch nicht deine Zeit, andere zu wecken und zu befreien“ gab ihm das Licht als Rat mit auf den Weg. „Es gibt noch viel zu entdecken, und noch viele Ketten zu sprengen, die auch dich noch zum Knecht machen.“
Der Bursche ließ sich von nun an immer weniger beirren, und er erlebte viele Gefühlswelten, und lernte viel über die Verstrickungen der Tat, aber und des Nicht-Tuns. Alles stand in Verbindung, und jede Beziehung, jeder Kontakt mit anderen war ein Abenteuer, eine Chance, ein Fluch, eine Falle, ein Stück vom Paradies.
Das Wesen der Welt aber, so vernahm der kräftige Bursche immer mehr, war das Wesen der Lüge. Überall war sie zu vernehmen. Das stellte ihn auf eine mehr als nur harte Probe.
Und der Tod, dieses gnadenvolle Geschöpf, welches sich aus der ungenutzten Lebenslust der Menschen und ihrer Ängste, die Wahrheit zu leben, speiste, wandelte noch immer unaufhaltsam auf der Welt.
Dessen Knechtschaft, die seit Anbeginn einem offenen Käfig glich, wollten jedoch nur wenige entrinnen. Und nur eine Handvoll in jeder Generation schien zudem auch noch gewillt, jenen Sturm zu ernten, den ihr Freiheitsdrang unweigerlich zu säen schien.
Ihm wurde plötzlich klar, dass er alles Recht hatte, diese verlogene Welt jederzeit auf eigenes Geheiß zu verlassen. Welches Herz außer seinem Eigenen hätte den auch schon das Recht auf tadelnde Autorität. Keines. Zu groß war dafür allein schon die Urlüge - seit Anbeginn dessen, was die Menschen Leben nannten.
Doch warum sollte er aufgeben, selbst hier, auf verlorenem Posten in einer göttlichen Tragödie? Die Wahrheit war nicht mehr zu leugnen. Ein Krieger steht immer wieder auf, und kämpft tapfer und ehrlich weiter – der ewigen Sinnlosigkeit selbst trotzend!
Das Licht seiner inneren Wahrheit war ihm in dieser finsteren Zeit Lehrer und Freund, im Ringen mit den eigenen Schatten und mit seinen Makeln. Der Rest war mehr wohlig verpackte Lüge als wahre Liebe - einem Schatten wohl geschuldet, den er bisher nicht zu deuten vermochte.
Als die Sonne in den frühen Morgenstunden wieder zum neuen Tag erstrahlte, stand er als Mann auf, und setzte seinen Weg fort. Die Luft schmeckte an diesem Morgen anders als sonst. Ein Gewitter schien sich zusammen zu brauen.
Die Jahreszeit wechselte gerade. Und das Kartenhaus des strahlenden Sommers zerfiel von Jetzt auf Gleich. Mit Wehmut wollte er alles halten und bewahren. Wieso konnte es nicht so weitergehen? War es doch ein äußerlich und teils innerlich sehr wohliges Leben gewesen.
„Ein Krieger fügt sich dem ewigen Wandel“, sprach die Stimme da zu ihm. „Wenn Gelerntes gelernt ist, fängt weitere, immergleiche Unterweisung nur an zu schmerzen. Drum, pack deinen Rucksack, und gehe frohen Mutes weiter. Am Horizont wartet das Paradies.“
Der junge Mann war verwirrt. Erst gestern noch war ein Turteln und Schmusen mit dem Hier und Jetzt, mit den Sirenen, den wunderschönen, möglich gewesen. Doch heute, im kühlen Nebel eines neu erwachten Tages war alles anders. Herbst brach an. Die Zeit des Rückzugs und des Abschied Nehmens. Und doch auch die Zeit, zu ernten.
„In der Einsamkeit euer inneren Höhle könnt ihr ernten, was ihr gesät. Jahr für Jahr. In der Beständigkeit des dauernden Wandels liegt eure Chance auf Reifung, auf Wachstum.“ Das Licht sprach sanft und ohne Drängen. Dafür mit weiser Voraussicht, ein betörendes Angebot machend.
Die Welt jedoch, sie hielt den heranwachsenden Krieger des Lichts weiter in Atem. Körperlich, geistig, seelisch, von innen und außen - bedrängend - ließ sie ihn kaum zur Ruhe kommen. Die Berge türmten sich plötzlich wieder unüberwindbar scheinend vor ihm auf.
„Jede Reise beginnt mit einem ersten Schritt“, beruhigte die Stimme den Wanderer in ihm. „Mach dich einfach auf den Weg in dein neues Leben. Lass los, was dich fesselt. Danke allen, die Teil deines bisherigen Lebens sind, für die Erkenntnisse deiner Selbst, die sie zu dir gebracht haben. Sei dankbar, dir selbst gegenüber, für all die Chancen, die du genutzt hast, und für all die Aufgaben, die du schon gemeistert hast. Du warst tapfer, wahrlich tapfer.
Jetzt aber kommt die Zeit der Geduld. Und die Zeit der Entbehrung. Nimm alles klaglos hin, genau wie die Tiere und Pflanzen es seit jeher tun. Denn auch dein Wesen ist von einer natürlichen Reinheit, die alles durchdringt.“
Der erwachte Kerl schlug sich mit der Faust fest auf die Brust. Ein stimulierendes Gefühl von Lebenslust durchdrang ihn. Er sah zum Fenster hinaus. Gerade hatte die Sonne erneut für Sekunden ihre Leuchtkraft zur Schau gestellt. Da wusste er, wohin der Weg führen würde…
thru F_H 10/12