Muttertag
Wenn irgendjemand meine Eltern so kennen lernen würde, dann müssten alle Worte die ich je gesagt habe als Lüge dastehen. Niemand würde mir glauben und so sehr ich mich gestern wohlgefühlt habe, so sehr ich mich hasse, diese Momente wie ein Schwamm aufgesogen zu haben, so sehr hasse ich auch meine Eltern. Ich hasse sie dafür, dass sie mir immer, wenn ich denke, nun habe ich genug Indizien gesammelt um sie entgültig hassen zu können, plötzlich ein völlig anderes Gesicht zeigen, mich damit verwirren. Mich von meinem Vorsatz zu hassen abbringen und ich eine tiefe Zuneigung spüre und mich je mehr ich darin aufgehe, anschließend umso mehr dafür selbst hasse. Ich komme mir vor wie ein Hund, den man Sonntags seinen Lieblingsknochen hinwirft, ihn spazieren führt und streichelt und Wochentags nur Abfälle zu essen gibt und tritt. Genau wie dieser Hund scheine ich nur noch für diese außergewöhnlichen Augenblicke zu leben. In der Hoffnung das irgendwann diese Art des Umgehens miteinander alltäglich wird. Wenn ich merke, dass solche Momente eintreten, dann warte ich erst einmal vorsichtig ab, bleibt es so oder ist es nur ein Aufflackern? Dann lasse ich mich irgendwann doch mitreißen in diesen Strom der Zuneigung und ich schwimme und das Wasser trägt mich, schaukelt mich, schlummert mich ein. Solange bis ich völlig eingelullt meine Gefühle so nahe spüre, dass es schon weh tut. Ich genieße es so schön ist es, ich kann mich nicht mehr dagegen wehren, ich bin völlig in ihrem Bann.
Ich verstehe Menschen, die meine Eltern in solchen Momenten kennen lernen, für Übermenschen halten. Die an ihnen kleben bleiben, wie Fliegen an einem honigdurchdrängten Streifen und ich fühle wie sich die restliche Liebe, die in mir ist, zu konzentrieren scheint und ich denke, ich habe meine Eltern schon immer verkannt, mir eingebildet, dass sie lieblos, aggressiv und ungerecht sind. Dann fühle ich mich schuldig. Ich muss es sein, der all diese Reaktionen vorher verursacht hat. Sie sind gar nicht so wie ich immer denke. Ich bin das Böse. So sehr hatten sie mich mit ihrer Liebenswürdigkeit die auch noch natürlich wirkt, betäubt. Wie in einem Traum. Unnatürlich! Und ich sprach innerlich ein Dankeschön, dass gestern nur ich sie so erlebt hatte. Es wäre furchtbar für mich gewesen, wenn uns jemand so gesehen hätte. Man muss mich dann vollends für eine unter Verfolgungswahn leidende Verrückte halten.
Die meisten Menschen finden meine Eltern wunderbar. Sie kennen sie nur so, aber ich kenne die andere Seite, die sie niemals zeigen würden, niemals Anderen gegenüber. Ich sehe immer die leicht verwirrten Reaktionen, wenn sie mal aus ihrer Rolle zu fallen drohen, sich aber dann noch bevor die Anderen zuviel mitbekommen, doch wieder fangen. Wie können Menschen sich nur so verstellen? Was ist denn jetzt die Wahrheit? Wie sich sie wirklich? Ich weiß es selbst nicht. Ich verachte mich, weil ich immer wieder auf Sie hereinfalle. Oh, es ist nicht so, dass es unangenehm wäre, aber hinterher ist es furchtbar. Ich schäme mich dafür. Dafür, dass ich diese Momente liebe. Dass in solchen Momenten alles in mir vergessen scheint. Es ist, als sei ich hypnotisiert. Ich verstehe das einfach nicht. Ich muss das endlich jemand sagen.
Er hat angerufen. Er hatte versprochen, er ruft mich an. Mein Herz schlug bis zum Hals. Als ich auflegte fühlte ich mich so, als würde ich schweben. Ich freute mich so sehr. Er hat meine Erwartungen nicht enttäuscht. Wenn er nicht angerufen hätte, wäre ich verzweifelt gewesen. Ich wäre in ein tiefes Loch negativer Gefühle gefallen. Bestimmt hätte ich vor Kummer – dieses Gefühl unwichtig zu sein – geweint. Ihm unwichtig zu sein, aber ich bin es nicht. Es macht mich glücklich. So glücklich, das ich jetzt nach unserem Gesprächen meinen Thunfischsalat regelrecht runterwürgen muss, weil ich so „voll bin“ vor Glück. So ist es, wenn ich glücklich bin. Keine Leere in mir, die ich versuche aufzufüllen. Ich bin sicher er weiß, was ich fühle, wenn ich bei ihm bin oder wenn ich nur an ihn und diese wenigen Minuten nur denken. So wertvoll – so kostbar. Es ist als gehen Strahlen in mich über und sie breiten sich in mir aus, bis sie mich ganz erfüllen. So fühle ich, wenn ich in mir Liebe fühle. Sie füllt mich aus, bis in jede Pore meines Körpers. Dass ist es, wonach ich mich sehne. Dieses Gefühl ist so schön, das ich weinen könnte vor Glück.
Ich habe ihm alles vom Muttertag erzählt. Meinen Gefühlen dabei und danach. Von dem Gefühl im Wasser zu treiben. Er fragte mich, was denn noch aus dem Wasser heraus schaut. Ich sagte – nur mein Kopf. Er muss meine Antwort schon vorher gewusst haben, denn ich merke an seinen Reaktionen, seine Zustimmung, er hat es gewusst. Er weiß wohl schon, was ich fühle bevor ich es ausspreche. Ein Gefühl als träume ich es. Er weiß mehr von mir, als ich selbst. Es gibt niemand sonst, der mehr weiß über mich als er. Manchmal denke ich, ich sei bei ihm „durchsichtig“ wie aus Glas. Er kann in mein Innerstes sehen und ich kann es mehr und mehr zulassen. Ich sprach heute den Gedanken aus, ich fühle mich manchmal wie in einem Kaspertheater, ich bin der Kasper, ich komme auf die Buhne, alle Kinder freuen sich mich zu sehen, dann gehe ich wieder, alle rufen nach mir, doch ich komme nicht. Erst wenn sie alle denken, ich komm nicht, dann komm ich wieder.
Er bliebt an diesem Vergleich hängen. Ich sagte Ihm, dass ich lieber Zuschauer wäre. Den Anderen soll dass, was mir passiert, geschehen und ich möchte nur zuschauen. Neutral sein. Er sagte der Kasper sei auch eine neutrale Person. Ich sagte ja, er steht zwischen Gut und Böse. Er schlichtet – vermittelt. Er hat eine „tragende Rolle“! Er sagte, das es ein schönes Spiel sei und er fragte sich, ob ich diese Rolle auch bei ihm spiele. Ich war so geschockt, ich konnte nur ein „Nein“ hauchen. Ich dachte längere Zeit darüber nach und wiederholte das Nein noch einmal.
Jetzt im Nachhinein kommen in mir Gefühle hoch, Enttäuschung. Er vermutet also, das ich ihn als „Bühne“ benutze. Wo er mir doch näher steht, als jeder andere Mensch. Er verdächtigt mich, zu so etwas fähig zu sein. Ich fühle mich verunsichert. Ich weiß nicht, was ich darüber denken soll, aber es macht mich traurig. Wenn so etwas wirklich geschieht. Dann geschieht es ohne mein Wissen. Ohne mein Wollen. Ich will ihn zu nichts benutzen. Meine „Auftritte“ habe ich dort, wo ich mir um die Gefühle der anderen zu mir nicht sicher bin. Durch mein Verhalten werden die anderen daran erinnert, das ich noch da bin. Hallo, ich lebe noch, aber bei Ihm? Nein! Ich fühle mich bei ihm sicher. Wozu dann Schauspielern? Ich brauche mir keine Mühe geben aufzufallen. Ich versuche „ich“ zu sein.
Letzten Donnerstag – ich versuchte ihm zu erklären was ich fühlte – hatte ich ihn „ausgeklinkt“. Was ich sagte, sagte ich so, als würde ich es nur aufschreiben wollen. Seine Fragen störten nicht, er störte nicht. Ich sagte es ihm. Er sagte, dass es dass geben würde, das jemand diese „Kreise“ stören kann und dass ich ihn dann ja ganz schön nahe an mich heran gelassen hätte, wenn ich ihn und mich als „Eins“ sah. Ja! So war es auch, ich und er waren nicht mehr Zwei, sondern Eins und wir waren uns nahe, so nahe dass es nichts mehr dazwischen gab.
Ich schaue aus dem Fenster. Manchmal fühle ich mich wie ein Butterkeks, den man in ein Glas Milch taucht. Wohlgemerkt, ich fühlte mich auch irgendwie wie die Milch. Nun gut, ich fühlte mich wie ein Butterkeks, den man zu lange in ein Glas Milch taucht und der dann zerfällt, sich mit der Milch vereinigt. Beim Trinken schmeckt man nicht nur die Milch, sondern auch den Butterkeks, der sich darin aufgelöst hat. Eine Mischung, die durch das Eintauchen und zu langes Eintauchen erreicht wird. Gewollt? Zwei Dinge haben sich vereinigt, durch das Zutun eines Anderen. Ohne ihn würden Milch und Keks noch getrennt sein.
Aber wer hält den Butterkeks so lange in der Milch, damit sie Eins werden?