Panik
Das Telefon läutete. Ich verstand zwar ihren Namen, wusste aber sekundenlang nicht „wohin“ mit ihr. Es war, als müsste ich die Erinnerung an sie aus den tiefsten Tiefen in mir holen. Dort wo alles Negative gelagert wird. Als mir bewusst wurde, dass sie es ist und mir meine Gefühle wieder so nahe waren, so als wäre es eben erst geschehen, wurde mir als Reaktion darauf schlagartig schlecht, so schlecht, dass ich dachte, ich muss mich übergeben. Es schnürte mir den Hals zu, mein Herz schien sich zu verkriechen und ich hatte das Gefühl ohnmächtig zu werden. Es ist nicht dieses Schlecht werden, das ich fühlte als unser Familientherapeut fragte, ob er in meinem Wagen mitfahren darf oder kann, also ob ich ihn mitnehmen könnte. Damals war es etwas völlig anderes. Trotz dem Schlecht sein damals, freute ich mich darüber, dass er mitfahren wollte, aber das was ich hier fühlte war etwas anderes, so als wüsste ich mit 100%iger Sicherheit, dass mir irgendjemand weh tun wollte. Hätte man mir gesagt, ich würde gleich geschlagen“ werden, meine Gefühle wären die gleiche gewesen.
Das blanke Entsetzen machte sich in mir breit, füllte mich mit solch einer rasenden Schnelligkeit aus, dass ich mich nicht wehren konnte. Ich wollte weg. Nur weg, aber so schnell ist es mir nie möglich mich zu „schützen“. Der Angriff gelang frontal, unvorbereitet, unfair. Ich hatte keine Möglichkeit mich darauf vorzubereiten und ich reagierte sofort und nicht wie sonst so oft zeitversetzt. Ich war diesem Gefühl der Angst so nahe, das ich glaubte daran ersticken zu müssen.
Als Frau Ried anfing zu sprechen, wünschte ich mich auf den Mond – ganz weit weg. Ich war meiner Angst so nahe, wie schon lange nicht mehr. Hätte ich angefangen hysterisch zu schreien, hätte es mich nicht gewundert. Sie hatte gerade den zweiten Satz begonnen, da weinte ich bereits. Die Tränen liefen unaufhaltsam und ich hatte das Gefühl „abzurutschen“, jeden Halt zu verlieren und niemand war da, der mich halten konnte, ich selbst vermochte es am allerwenigsten.
Es war grauenhaft. Wie ein Soog der mich hinabriss, wie ein Strudel. Ich konnte mich nicht dagegen wehren. Ich hatte das Gefühl schreien zu müssen, aber kein Ton kam über meine Lippen, aber in mir dort schrie alles um Hilfe! „Tu was dagegen“ hämmerte es in meinem Kopf doch ich konnte nichts tun. War zu keiner Regung – äußerlich – fähig. Nur weinen, dass war möglich. Der innere Kampf. Das Betteln unsichtbar zu werden. Das Zeichen der Wehrlosigkeit und Hilflosigkeit. Weinen und Lachen, die einzigen äußerlichen Regungen. So als ob ein Lachen oder das Weinen, die Sprache wäre, die mich den anderen verständlich machen wollte.
Frau Ried sagte, dass Sie noch einmal mit mir zusammen sitzen wollte. Sie möchte keine Entscheidung treffen ohne sich noch einmal mit mir zu unterhalten.
Ich dachte sofort an den einzigen Menschen, dem ich vertraute. Er muss dabei sein. Er wird mich nicht dieser Frau ausliefern. Er wird mich nicht dem Gefühl von völliger Hilflosigkeit überlassen. Er muss mich vor ihr beschützen, ich kann es nicht. Wenn ich falle, dann muss er da sein um mich „aufzufangen“, mich nicht ins Bodenlose fallen lassen. Ich werde sonst darin ertrinken. In einem See von Tränen und Blut. Meinen Tränen, meinem Blut. Ich komme nur dagegen an, wenn ich weiß, dass es einen Menschen gibt, der mich versteht und mir das Gefühl gibt, nicht ausgeliefert zu sein. Ich konnte letzte Woche bei diesem ersten Treffen mit ihr nur deshalb sagen was ich dachte, weil ich wusste er ist da und mir kann nichts passieren.
1990 ... Ich starre in mein Tagebuch, erinnere mich an diese unerträglichen Minuten ... alles in mir schrie – ich will nicht dorthin – dass dürft IHR nicht tun – ich will nicht – IHR dürft mich nicht alleine lassen – helft mir doch! Es ist mir – jetzt nachdem ich mich einigermaßen beruhigt habe – nicht klar warum dieser Aufruhr in mir stattfand. Warum schrieb ich „IHR“ dürft mich nicht alleine lassen? Diese „IHR“? Wenn meine ich damit?
Frau Ried sagte, dass sie und die anderen Betreuer der Heilpädagogischen Gruppe in der mein Sohn künftig Wochentags nach der Schule zur Betreuung gehen soll, mit mir noch mal sprechen wollten. Ich fragte sie, ob unser Familientherapeut davon wusste. Sie sagte, dass sie eben mit Ihm gesprochen hatte.
Er weiß davon und lässt mich alleine? Liefert mich dieser Frau aus ... dieser Frau, die mich so sehr an SIE, die für mich übermächtigste Frau in meinem Universum erinnert ...
....Mutter!
(Fortsetzung von Kurzgeschichten: Muttertag)