Die quälende Frau
Ein sonniger und milder Herbsttag in einem idyllisch anmutenden Vorort der Großstadt. Die Bewohner der beiden kleinen Häuser genießen das warme Wetter zum netten Plausch auf dem gepflegten Grundstück des Anwesens. Die Stille wirkt friedlich und harmonisch, wie ein Stück heile Welt. Der Plausch wird durch furchterregende Töne jäh unterbrochen. Auf den Gesichtern der Nachbarn lässt sich ein deutliches Entsetzen erkennen. Die Blicke schweifen sofort in Richtung Wohnung der etwas sonderbaren Frau. Sie mögen und achten diese Frau, die stets freundlich, sehr sauber, emsig im Garten werkelnd sowie immer vielseitig beschäftigt ist.
Trotz des warmen Wetters hält sie ungewohnter Weise die Fenster und Terrassentür geschlossen, ein Hineinschauen ist nicht möglich. Die qualvoll zu vernehmenden Töne müssen aus ihrer Wohnung kommen, sind jedoch nicht zuzuordnen. Die Bewohner überlegen, ob der Sohn der Frau daheim ist. Sie stellen fest, dass sie den Sohn längere Zeit nicht gesehen haben. Sie entschließen sich, bei der Frau zu klingeln. Doch vergebens, kein Öffnen der Tür. Diese Töne sind im Treppenhaus noch stärker zu hören. Langsam sind die Nerven der Bewohner über alle Maßen angespannt. Als letzte Möglichkeit, die nicht zu überhörende Qual zu beenden, bleibt das Verständigen der Polizei. Doch was genau sollen sie sagen: Ruhestörung?
Just in dem Moment der gefallenen Entscheidung ertönt ein tiefes Grollen, gefolgt von einem zuckenden Blitz. Ein Blick gen Himmel und ein erleichterndes Aufatmen. Die vor ein paar Sekunden noch besorgten und erzürnten Bewohner stürzen eilig in ihre Wohnungen. Ein hastiges Verschließen von Fenstern und Türen verrät das nun Nichthören müssen dieser qualvollen wirkenden Töne dank des Gewitters.
Derweil in der Wohnung der Frau, ist diese mit Geduld und Konzentration weiterhin dabei, seit Anbeginn der Tortur ihre Finger endlich die richtigen Stellen treffen zu lassen. Auch sie vernimmt das Gewitter, wohlwollend, nun endlich Fenster und Terrassentür öffnen zu können. Sie achtet peinlichst darauf, sich angemessen zu verhalten und ihre Nachbarn nicht zu stören.
Nach einer kurzen Erholungspause versucht sie weiterhin, ihrem liebgewonnen doch leider vernachlässigtem Akkordeon die gewünschten melodisch wohlklingenden Töne zu entlocken.
© Violetti 04.10.2012