Abseits
Ich ging arbeiten, war jeden Morgen pünktlich und wenn es notwendig war, blieb ich auch länger im Büro. Es war ein dumpfes vor sich hin funktionieren!Nur an den Wochenenden, da fühlte ich mich lebendig. Ich zog mit Luna um die Häuser und tanzte mich durch Clubs und Diskotheken, während Luna sich hin und wieder kräftig die Kante gab, wenn auch nicht mehr so ausufernd wie früher.
Wenn wir ausgingen bezahlte Luna alles und ich versuchte beschämt so wenig wie möglich Kosten zu verursachen. Luna hatte zwar früher, als ich noch mehr Geld hatte, auch für einige Zeit von meinem Geld profitiert, aber ausnutzen wollte ich sie nicht. Ich war froh, dass ich sie hatte, bei ihr konnte ich mich ausheulen, wenn mich Melancholie überkam.
Ich sehnte mich wieder nach jemand der mich liebt, doch ich hatte Angst, erneut enttäuscht und ausgenutzt zu werden. So ging ich fast zwanghaft, sämtlichen Männern, die auf den ersten Blick schon rein optisch mein Interesse wecken könnten, aus dem Weg und wenn mich dann doch einer ansprach, war ich mehr als nur abweisend. Im meinen ganzen Bemühungen möglichst unnahbar zu wirken, fühlte ich mich einsam und unglücklich, jedoch sicher.
Dann traf mich völlig unerwartet ein neuerlicher Schicksalsschlag: Meine Firma machte Konkurs. Zuerst wurden die Arbeiter entlassen, dann die Mannschaft vom Büro. Zuletzt blieben der Chef selbst, seine Sekretärin und der Prokurist. Übrig, um zusammen mit dem Konkursverwalter das Chaos abzuwickeln. Mein letztes Gehalt erhielt ich zum Glück noch.
Verzweifelt versuchte ich etwas anderes zu finden, doch es klappte nicht. Die Arbeitsmarktsituation hatte sich verschärft und ich hatte keine Ausbildung, was nun erneut ein Problem darstellte. Einen schlechter bezahlten Job als vorher annehmen konnte ich nicht, ich kam so schon kaum über die Runden.
Jetzt ging ich auch zum ersten Mal in meinem Leben zum Arbeitsamt und nachdem ich wieder draußen war, fühlte ich mich wertloser als je zuvor! Das Geld das ich erhalten sollte, viel weniger als zuvor, würde niemals reichen! Auch nicht, wenn ich meine Notunterkunft, gnädigerweise von meinem Eltern zur Verfügung gestellt, ein kleines Gartenhäuschen auf einem abgelegenen Grundstück am Wald, überhaupt nicht mehr verlassen würde. Autoversicherung, Strom, Essen, Trinken ... Mein Auto musste ich zwangsläufig behalten, denn sonst käme ich nachher auch zu keiner Arbeitsstelle wenn ich etwas finden sollte. Der Garten war doch zu sehr von der „Zivilisation“ abgelegen. Unanhängig davon, dass ich fast zwei Kilometer zur Bushaltestelle laufen müsste, fuhren die Busse nur selten.
Ich musste Arbeit finden, gleichgültig welche, jedoch mindestens dass verdienen, was ich vorher schon hatte und es war mir inzwischen so ziemlich egal, was ich dafür tun musste.
In einem Club lernten wir einen Typen kennen, der uns erzählte, das sein Bekannter eine Bar habe und ein Animiermädchen suchte. Da ging ich hin und sah mir das an.
Eine ziemlich herunter gekommene Bar, in einem Gebäude, das bald abgerissen werden sollte, also nur etwas für vorübergehend. Schummriges Licht, eine laute Musikbox und schmuddelige Separees. Kein Sex, das war das einzige was sich gut anhörte, doch dafür sollte ich die männlichen Gäste zum Trinken animieren und mir ihren Seelenschutt anhören. Verdienen würde ich an dem was sie mir spendierten. Ein Problem war jedoch, dass ich kaum Alkohol trank und auch nicht vorhatte dies zu ändern.
Ich verlangte vom Chef, einem von sich eingenommenen Griechen um die 40, dass mir in die Cocktails null Alkohol gemischt wurde.
„Das ist aber nicht üblich!“, sagte er.
„So oder gar nicht! Ich kann auch woanders arbeiten!“
Der Grieche zeigte sich überrascht, nahm mich jedoch trotzdem, er meinte ich könne mich durchsetzen, dass war mir zwar neu, dass mich jemand so sah, doch ich nahm es erst mal so hin.
Ich fand die Arbeit anstrengender als zunächst vermutet. Der Qualm der Zigaretten, die laute, ewig gleiche Musik, die zum Teil angetrunkenen Gäste, die meist doch versuchten uns Mädchen zu befummeln, und das Schlimmste: das ewige Gejammer über das Elend der Welt und wie berechnend die Frauen wären.
Der Chef, machohaft, sich unwiderstehlich findend, schien jede der Frauen, die für ihn arbeiteten, schon mal flachgelegt zu haben. Nur an mir biss er sich die Zähne aus.
„Ich kann dich auch rauswerfen!“, drohte er schließlich, lächelte jedoch dabei.
„Und wenn schon! So einen miesen Job finde ich überall!“
„Man sollte dir ...!“
„Sprich es besser nicht aus, sonst gehe ich gleich!“, damit lies ich ihn stehen. Derartigen Wortwechsel führten wir inzwischen fast täglich. Ich wunderte mich manchmal über mich selbst, wie ich mich benahm, doch der Typ kotzte mich einfach nur an. Und je mehr er mich bedrängte, desto aggressiver wurde mein Verhalten.
Wenige Tage später vertraute mir eines der Mädchen an, sie war die Jüngste von uns allen, dass sie vom Chef schwanger sei und er ihr Geld für eine Abtreibung gegeben habe. Da sie keinen Führerschein hatte und nicht wusste wie sie nach Holland kommen solle, fragte sie mich ob ich sie fahren könne.
„Willst du denn wirklich abtreiben? Es kann sein, das du danach nie wieder ein Kind bekommen kannst!“
Sie will abtreiben und ich konnte keines bekommen, dachte ich traurig, nur für mich.
„Er will es nicht und wenn ich es nicht wegmachen lass, wird er mich verlassen. Ich weiß nicht, wie ich es alleine groß kriegen soll, ich hab niemand der mir helfen würde!“
Sie erzählte, dass sie in einer kleinen Wohnung lebte, die ihr der Grieche besorgt habe. Sie sei ihm vor zwei Jahren, nachdem sie von zu Hause und den Übergriffen ihres Vaters geflohen war, über den Weg gelaufen und seither seine Geliebte. Er jedoch, war verheiratet und hatte bereits zwei Kinder. Seine Tochter sei nur wenige Monate jünger wie sie selbst. Seit sie achtzehn geworden war, arbeitete sie in der Bar mit und das war gerade einmal drei Monate her. Das Geld, das sie verdiente, behielt er ein, für Wohnung, Kleidung, Ernährung und was er bisher für sie ausgegeben hatte. Er verrechnete!
Sklavenhändler, dachte ich empört. Ich hatte genug gehört um ihr wild entschlossen helfen zu wollen nach Holland zu kommen, auch wenn es verboten war. Wir lebten Anfang den 80ern. An den Grenzen kontrollierten sie, dass war aus Unterhaltungen, die ich von anderen Frauen mitbekommen hatte, bekannt.
Doch ich konnte unmöglich allein so weit fahren, also rief ich Luna an, diese verständigte Gabriel. Luna und Gabriel hatten mich erst kürzlich besucht, nachdem ich ihnen gesagt hatte, wo ich arbeitete. Sie fanden die abbruchreife Bretterbude mehr als abschreckend. Ich hatte sie eingeladen und dass was sie tranken, kostete mehr, als ich an diesem Abend verdiente. Ich spielte schon längst mit dem Gedanken dort wieder aufzuhören. Wenn das so weiterging musste ich womöglich noch Geld mitbringen.
Gabriel fragte nicht lange, er fuhr das Mädchen zusammen mit mir nach Holland, so als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Immer wenn man ihn brauchte, war er ohne Einschränkung sofort da und half selbstlos. Eine Eigenschaft, die ich sehr sympathisch fand. Er war freundlich und wirkte unverdorben, ich möchte ihn.
Auf dem Weg nach Amsterdam in die Abtreibungsklinik, ging uns dann blöderweise der Sprit aus. Es war mitten in der Nacht, besser früher Morgen und jede Tankstelle hatte geschlossen und würde erst Stunden später wieder öffnen. Schließlich blieben wir liegen.
Das Entsetzen war groß, gab es doch einen festen Termin in der Klinik, der einzuhalten war. Nach einiger Diskussion entschloss sich Gabriel loszulaufen und irgendwo Sprit aufzutreiben. Als er ging, war das Mädchen in Tränen aufgelöst, aus Angst nicht rechtzeitig in Amsterdam anzukommen und unverrichteter Dinge wieder nach Hause geschickt zu werden.
Nachdem Gabriel in der Dunkelheit verschwunden war, überkamen mich Gefühle wie in einem Horrorfilm, mit der Vision: liegengebliebener Wagen und der irre Kettensägenmörder luncht einen nach dem anderen ab. Wir steckten uns mit der Angst an und verriegelten das Auto von innen.
Nur wenig später, hielt hinter uns ein Auto, ein Mann stieg aus und kam im Scheinwerferlicht seines Wagens auf uns zu. Panik! Als er ans Fenster klopfte musste ich einen Schrei unterdrücken. Wir Mädchen sahen uns an, mussten plötzlich lachen über unsere eigene Reaktion und ich kurbelte dann das Fenster einen winzigen Spalt auf. Irgendwie konnten wir uns mit dem Niederländer verständigen. Der Mann war einer dieser „Engel“ die man bei uns ADAC nennt und er half uns und verkaufte uns einen Kanister Sprit.
Jetzt fehlte nur noch Gabriel. Der Morgen graute bereits, als er zurück kam und ebenfalls einen Kanister Benzin mitbrachte. Nachdem er festgestellt hatte, das auch die nächste Tankstelle zu der er per Anhalter gefahren wurde ebenfalls noch geschlossen hatte, lief er querfeldein zum nächsten Haus. Dort lud ihn eine freundliche Familie zum Frühstück ein. So saß er zwischen den drei Kindern, die zur Schule mussten und dem Ehepaar und genoss niederländische Gastfreundschaft, während wir, müde wie wir waren, im Wagen einige Zeit geschlafen hatten. Gabriel wurde von dem Mann zusammen mit den Kindern mit in die nächste Stadt genommen und am Ortseingang fand er dort dann auch eine Tankstelle, die früher als die anderen öffnete. Nach seiner Odyssee, weckte er uns, wir erzählten uns unsere Erlebnisse und fuhren weiter nach Amsterdam.
In der ersten Klinik in der wir den Termin gerade noch einhielten, schickten sie uns nach einer Untersuchung in die Stadt Utrecht. Erst dort konnte ihr geholfen werden. Nachdem wir bis spät in die Nacht hinein gewartet hatten, bekamen wir das Mädchen mehr tot als lebendig zurück. Es hatte Komplikationen gegeben, weil sie bereits im fünften Monat gewesen war! Davon hatte ich zuvor keine Ahnung und sie vermutlich auch nicht. Trotzdem kam ich mir vor, als habe ich mich an einem Mordkomplott beteiligt.
Wir kamen unbehelligt über die Grenze zurück nach Deutschland. Auf dem Rücksitz hielt ich sie in meinen Armen. Sie hatte lediglich eine örtliche Betäubung erhalten und alles mitbekommen! „Sie haben es abgesaugt! Oh Gott, es war so grauenhaft!“, schluchzte sie. „Wenn ich das gewusst hätte, ich hätte es nie getan!“
Abgesaugt? Dann musste sie es doch vorher zerkleinert haben! Wir alle waren entsetzt. Nachdem sie uns all das Furchtbare erzählt hatte, war ich den Tränen nahe und mir wurde klar, das ich niemals abtreiben könnte, komme was wolle! Doch da mir in der Uniklinik versichert worden war, dass ich auf natürlichen Weg vermutlich nie nicht schwanger werden konnte, würde sich mir diese Frage wohl auch nie stellen!
Als wir zurück waren, wollte sie unbedingt gleich in die Bar und ihren Geliebten sehen. Als wir dort ankamen, fragte er sie so laut, das auch ich es hörte. „Bist du es los?“ Doch keine Umarmung, kein Kuss, kein Trost ... nichts!
Sie nickte zaghaft, schwankte und hielt sich an der Bar fest. War das Schwäche, Schmerzen oder das Entsetzen über seine Gefühllosigkeit?
„Dann kannst du ja morgen gleich weiterarbeiten!“, warf er ihr entgegen und lies sie einfach stehen. Sie begann zu weinen.
Da konnte ich nicht mehr an mich halten, ich lief ihm hinterher und schleuderte ihm Worte ins Gesicht, die ihn erbleichen ließen.
„So redet niemand mit mir!“, keuchte er. „Du bist entlassen!“
„Du glaubst doch nicht wirklich, das ich bei dir Machoarschloch noch eine Minute länger gearbeitet hätte?“
Die Mädchen rings um uns sahen mich fassungslos an.
„Du wirst in keiner Bar in der Stadt je wieder Arbeit finden!“, brüllte er mich an.
„So groß bist du nicht ... Grieche!“, und es klang wie ein Schimpfwort.
Damit lies ich ihn stehen und verlies zusammen mit Gabriel, der die ganze Zeit schweigend daneben gestanden hatte, die Bar.
Und merkwürdigerweise fühlte ich mich jetzt – erneut ohne Job - verdammt gut!