Schelte! (Vorfühlen)
Schelte! (Vorfühlen)„Ach du meine Güte, was regen die sich alle bloß so auf. Es ist doch nichts Schlimmes passiert. Und wer in der realen Schwabenwelt kennt schon Gesichter zu den Nicknamen aus ganz Deutschland.“
Es war Tom völlig unverständlich. Leider konnte er auch mit dem nachgereichten Argument, Storycrossing sei der neueste Hit aus den USA, bei den Betroffenen nicht wirklich beschwichtigend landen.
„Da geht es um freiwilliges Liegenlassen, nicht um ungefragtes „Veröffentlichen“ von anderer Leute Geschichten“, hatte es ihm wutentbrannt entgegen gestürmt.
Keine Sekunde Schlaf war ihm daraufhin in der letzten Nacht vergönnt gewesen. Sein Kopf war Formel 1 mit ihm gefahren. Doch er saß nicht am Steuer. Und die Fahrt schien einfach unaufhörlich so weiter gehen zu wollen.
Was war denn nun eigentlich passiert?
Allerlei Stress bestimmte gerade Toms Alltag. Loslassen war etwas, das er schmerzlich üben musste. Dringend. Die Bäume taten es ja auch, ganz ohne Not, ganz ohne Kampf. Einfach so. Und auch die hohen, den meisten menschlichen Körpern sehr angenehmen Temperaturen taten es. Genau wie die reichlichen Sonnenstunden, die den Sommer so licht und leicht gemacht hatten. Zudem drängten immer mehr Geschichten in sein Leben.
Die trübe Aussicht, mal wieder ewig lange mit der Bahn unterwegs zu sein, um zu seinem Arbeitsplatz zu gelangen, wurde nur durch das am Vorabend selbst zusammenkopierte Worddokument etwas erhellt.
So saß er also mit dem Machwerk zwischen lauter miesepetrig dreinblickenden Mitmenschen, die alle genauso verschlossen schienen, wie er selbst. Und fast jeder hatte etwas, um daran oder darin rumzufummeln. Hauptsache keine langen Blickkontakte entstehen lassen. Darauf hatten sich die Menschen irgendwie alle gemeinsam geeinigt, wie es ihm schien.
Und er konnte sie ja verstehen, die Menschen. Diese zusammengepferchten Menschenmassen, in Bahnwaggons. Irgendwie rührten sie ja immer auch an alten, verdrängten Gefühlen. All diese Nachkommen (oder Wiedergeburten) einer so gescheitert dunklen Epochen-Nation. All dieses Hasten und Wegspüren.
Er war ja selbst auch nicht wirklich besser. Mal abgesehen von dem Highlight, welches er heute als Schild gegen den Schmerz mit sich trug. Ein wenig Stolz funkelte schon in seinen Augen. Denn es waren ganz besondere Texte. Ehrliche Texte. Tiefgehende Texte. Sehnsüchtige Texte. Und nur er hatte so einen schimmernden Schatz in der Hand.
Neben ihm lass man Zeitung. Gegenüber leichte Sommerkost. Und ganz einem Naturgesetz entsprechend schien die Handyquote mit dem Geburtsjahrgang in einem klaren Wechselspiel zu stehen.
Tom schlug die erste Seite auf. Da ging es gleich schizoid theatralisch zur Sache. Erinnerte ihn an seine eigene Zeit in der Klapse. Und daran, wie er und die anderen, zum Selbstschutz
wohl, damals immer damit kokettiert hatten, dass sie nun wenigstens „Zertifiziert“ wären, was allen anderen ja noch bevorstand.
Heute konnte er solche Abschnitte seines Lebens aber wesentlich klarer und offenen kommunizieren. Und für sich als Teil eines Sinn ergebenden Weges akzeptieren, ja, annehmen. Selbst Paulo Coelho soll ja in der Irrenanstalt gewesen sein.
Er blätterte um. Jetzt kamen die Damen, und erzählten von ihren diversen inneren Leidwesen, welche mit der mutlosen und kontrollfreakigen Männerwelt ihre ach so schwierigen Ringelreigen haben. Dazwischen geiler Sex, völlig enthemmt. In seinen Lenden wollte sich etwas plötzlich aufbäumen. Doch leider war dies hier nicht der „Unverschämte Zug“, sondern die proppevolle S-Bahn zur besten, aber letztlich doch nur ziemlich muffeligen Stoßzeit.
Dann kam ein Traum. Oh wie wundervoll geschrieben. Wie nachfühlbar verdichtet. Er zauberte ein Lächeln auf Toms Gesicht.
Ein kurzer Blick nach oben, und schon hatte die Frau vom Sitz gegenüber, gerade noch als Mädel mit leichter Sommerlektüre abgetan, im „zertifizierten“ Hirn, einen betörenden Bann über ihn gelegt.
„Was bringt Sie so zum Strahlen?“
„Dich, bitte.“
Sie lächelte weiter. „Dich“
„Die Geschichten, die ich gerade lese. Vor allem die, die ich gerade beendet habe.“
„Und was sind das für Geschichten?“
„Erotische.“
Sie sah ihn noch immer völlig entspannt lächelnd an. Und auch ihm schien, als wie wenn er völlig bauchfrei einfach erzählte, was da gerade so alles explodierte, floss, schleimte, eindrang, schimpfte, aufgegeilt wurde und wütete, bei all den Protagonistinnen seiner bis gerade eben noch schatzhaft gehüteten Geschichten.
„Schreibst du auch?“
„Ab und zu.“
„Und was?“
„Querbeet.“
„Lust mir mal welche von deinen Texten vorzulesen?“ Ihr Blick erzählte bei diesem Satz von lauen Nächten zu zweit am Hafen von Istanbul, von umschlungenen Blicken runter vom Rockefeller Plaza, vom Sonnenaufgang am Fuße des Kīlauea.
„Äh, ja.“ Tom war doch nicht ganz so frei, wie ihm schien.
„Und wann? Jetzt vielleicht? Ich komme gerade von meiner Nachtschicht nach Hause, und würde mit einer schönen Gute Nacht Geschichte sicher wunderbar einschlafen können.“
Er dachte nach. Da stand sie plötzlich auf.
„Meine Station. Na?“
Sie reichte ihm die Hand. Ohne weiteres Überlegen stand er auf. Und 1 Stunde später wusste er, wie sich ein mögliches Paradies anfühlen könnte.
Wenn, ja wenn...
Als Tom abends heim kam, ging er sofort an den Rechner. Wie konnte ihm so etwas bloß passieren. Er hatte es den ganzen Tag wunderbar verdrängen können. Doch jetzt wuchs das Gewissen zu einem ekligen Klumpen in seinem Magen an. Daraufhin beichtete er den anderen Mitgliedern seines Forums, dass er den ganzen Packen mit ihren Geschichten, samt ihren Nicknamen, in der Aufregung in der S-Bahn liegen lassen hatte. Der Rest ist nun schon Geschichte.
*
„Verdammt“, dachte ich. „Dem Chef muss ich den gestrigen Tag auch noch irgendwie beibringen.“ Ich hatte wenig Hoffnung auf Verständnis. Zudem war ich todmüde.
Aber das Weib, ihr müsstet es einfach mal sehen. Ein wahrer Schatz. Ein wahrer Traum?
thru F_H 10/12