Der Kugelmann
Die Kugel rollte bergab. Und sie nahm rasant an Fahrt auf. Es gab nur diese eine Richtung und keine Chance zu entkommen. Er versuchte es trotzdem. Rannte dorthin, woher er gekommen war. Doch so schnell er auch bergauf strebte, die Kugel war schneller. Er war sicher, würde er aufhören zu rennen, sie würde unten in einen riesigen Abgrund fallen. Es konnte gar nicht anders sein. Da unten lauerte das schwarze Loch, das das Ende bedeutete.Er war nicht bereit für das Ende. Er wollte dahin zurück, wo alles gut war. Und wenn das Ende schon kam, dann wenigstens so spät wie möglich. Er würde sich so teuer wie möglich verkaufen und nicht aufgeben. Nicht, bevor es nicht mehr anders ging. „Wie bin ich hier nur hineingeraten?“, zuckte es durch sein Gehirn. Er verbot sich die Frage. Die Suche nach der Antwort würde ihn nicht herausbringen. Sie kostete ihn Kraft, die er brauchte, um sich gegen den Lauf der Kugel zu wehren.
Er versuchte, sich ihren Lauf zu vergegenwärtigen, ließ das Gelände Revue passieren. Vielleicht war es möglich halb schräg auf anderes Terrain zu kommen. Vielleicht war es dort flacher. Dann könnte er... Ein harter Schlag brachte ihn zum Trudeln. Er fluchte und versuchte, etwas zu erkennen. Doch die gekrümmte Oberfläche der Kugel ließ nur einen verschwommenen und verzerrten Blick nach draußen zu. Hunderte Male hatte er anderen das Gelände beschrieben, und jetzt war er selbst unterwegs und hatte keine Ahnung, wo er war.
Wenigstens rollte die Kugel jetzt deutlich langsamer. Er richtete sich mühsam auf und stemmte seine Hände gegen die Wand. An einigen Stellen war wohl etwas von der Oberfläche abgeplatzt, so dass die Wand hier fast durchsichtig war. Sollte jemand da draußen sein? Er schüttelte den Kopf. Vermutlich war es nur eine andere Kugel oder ein Felsvorsprung. „Konzentrier dich!“, mahnte er sich. Er musste nur gründlich genug nachdenken, dann fand er die Lösung.
Er fasste Tritt und lief wieder an. Ein Gesicht tauchte vor ihm auf. Eine Stimme sagte, „hier bin ich. Komm zu mir.“ Für einen Moment stockte er, dann trat er mit doppelter Geschwindigkeit zu. Was immer da draußen war, es konnte nicht wissen, wie es drinnen zuging. Wenn nur diese verdammte Kugel für einen Moment ruhig liegen würde, er könnte sie in Ruhe erforschen und einen Ausweg finden. Aber sie drehte sich um sich, in sich, rollte nach unten. Wie sollte er wissen, welche Stelle der Wand er bereits nach einem Ausweg untersucht hatte und welche nicht? Wie sollte er in Ruhe nachdenken, wenn er ständig darum bemüht sein musste, nicht tiefer zu rollen als sowieso schon?
Er trat und trat, polterte und stolperte. Wollte vergessen, wie es außerhalb war. Wenn er schon hier gefangen war, dann wollte er wenigstens dem, der ihn gefangen genommen hatte, nicht den Triumph gönnen, ihn aufgeben zu sehen. Wenn es nichts anderes gab als die verdammte Kugel, dann musste er eben darin leben. Seine Bewegungen wurden ungleichmäßiger, sein Atem ging stoßweise. Da, jetzt ging es aufwärts. Er trat stärker, hüpfte, trat, und tatsächlich: die Kugel rollte mit Schwung nach oben, kippelte auf etwas und fiel.
Er schrie auf, als er den Luftzug gemerkte. Ein Aufprall, ein Hopser, die Kugel kullerte hin und her und kam zum Stillstand. Das Gesicht tauchte erneut vor ihm auf. Die Stimme sagte, „komm zu mir. Ich reiche dir die Hand und helfe dir hinaus. Dann gehen wir fort.“
Jetzt hatte er den Eingang entdeckt. Erinnerte sich vage, wie er hindurch gefallen war. Doch es gab keine Klinke. Verschlossen! Von hinten berührte ihn eine Hand. Er erstarrte, zog sich in sich zusammen, unfähig, die Hand zu greifen.
„Komm!“, sagte die Stimme. „Hier ist ein schmales Loch. Wir brechen es gemeinsam auf, und dann kommst du heraus. Du musst dich nur etwas anstrengen.“
Er sah auf das Loch, sah das Gesicht davor und hellen Sonnenschein. „Was wird dann?“, fragte er sich. Er wandte sich ab und hämmerte gegen die Tür. Hämmerte bis die Kugel wieder rollte.
© Sylvie2day, 18.10.2012