The fear of writing
Auf allen vieren kniee ich auf der Matratze. Der Mann hinter mir gibt sich redlich Mühe auf dem Weg zu meiner und seiner Befriedigung. Enthusiastisch stößt er zu, variiert Tiefe, Rhythmus und Intensität - atmet heftig und stöhnt leicht. Pflichtschuldig spiegele ich sein Tun."Ich ficke Dich" konstatiert er das Offensichtliche. Mir wird klar, dies ist seine Variante von "dirty talk".
Das "Ding" in meinem Kopf erwacht.
Das "Ding"? Nun ja, seit ich versuche, Geschichten aus meinem Leben oder meine Phantasien aufzuschreiben, hat sich etwas in meinem Hirn selbstständig gemacht. Andere ambitionierte Autorinnen nennen es "die innere Göttin" - ich würde es prosaisch als einen kleinen Stenographen bezeichnen, der akribisch protokolliert, was mir so im Laufe eines Tages zustößt, es schmeckt, es sich auf der Zunge zergehen lässt, es kommentiert, bewertet, zensiert, auf Tauglichkeit prüft.
Eignet es sich für eine Geschichte? Ist es witzig? Ist es spannend? Ist es sexy? Ist es irreal? Ist es dramatisch?
Wie beschreibe ich das Geschehen? Einiges habe ich schon gelernt: das, was da gerade in mir steckt, darf auf keinen Fall "Zauberstab" genannt werden und er dringt nicht in meine "Lustgrotte" ein. "Verkehr" zwischen "Vagina" und "Penis" ist zu klinisch, "Votze" und "Pimmel" und "bumsen" eindeutig primitiv.
Die Sätze sollten kurz und verständlich sein und der besseren Übersicht wegen wird darum gebeten, häufiger Absätze zu machen. return
"Ich ficke Dich - dabei kannte ich Dich vor zwei Stunden noch gar nicht."
Der selbstzufriedene Tonfall lässt mich vermuten, dass sein durchaus nicht unattraktives Gesicht einen ähnlich triumphierenden Ausdruck trägt. Zumindest war ihm die Freude über seinen Jagderfolg anzusehen, als er mich vor einer Weile missionarisch beglückte. Erwähnte ich bereits, dass ich Sex mit offenen Augen hasse? Öffne ich die Augen und mir wird bewusst, dass da ein Fremder in mir steckt, lenkt mich das von meinen Fantasien ab; hat er die Augen offen, fühle ich mich beobachtet oder - schlimmer noch - bewertet.
"Was ziehst Du denn für eine Grimasse?" hatte er gefragt. Freundlich lächelnd hatte ich ihm vermittelt, dass dies mein für höchste Ekstase reservierter Gesichtsausdruck sei und es vermieden, ihm die freundliche Empfehlung "Wenn es Dir nicht gefällt, mach doch die Augen zu und denk an den weiblichen Star Deiner Wahl!" angedeihen zu lassen.
Immerhin kann meine Kehrseite keine Grimassen ziehen und die cellulitische Kraterlandschaft meiner Schenkel bleibt gnädig im schummerigen Halbdunkel verborgen.
Die Protagonisten:
Sie: SchwarzeRose_69 (sie geben sich immer florale Attribute), Anfang 40, seit drei Jahren geschieden, nachdem ihr Mann sie einer Jüngeren wegen verließ. Dank des Halbtagsjob kommt sie über die Runden und unter die Leute. Die Kinder sind gerade den Teenagerjahren entwachsen und versorgen sich mehr oder weniger selbst.
Der Männermarkt in der Kleinstadt, in der sie lebt ist spärlich - die vorzeigbaren Männer in ihrem Alter sind die Ehemänner ihrer Freundinnen oder Geschäftspartner ihres Mannes. Da schafft das Internet zuverlässig Abhilfe.
Nach gescheiterten Versuchen auf kostenpflichtigen Flirtplattformen mit elitärem, akademischen Publikum, hat sie sich vor einem halben Jahr hier registriert. So ganz hat sie ihren Traum von der neuen Partnerschaft - bis dass der Tod (oder der Richter) uns scheidet - noch nicht aufgegeben, aber bis "der Richtige" kommt, kann Frau ja ein bißchen Spaß ...
Sie wird nicht müde im Forum zu beschreiben, wie gut sie sich in ihrem Singleleben eingerichtet hat, dass man nie suchen darf, um zu finden und ...
Sie betont in ihrem Profil, dass sie nicht auf One-night-stands steht. Das ist billig und unter ihrer Würde und überhaupt kann Sex mit einem Fremden, den man nicht kennt und für den man nichts fühlt ...
Und nein! Nie würde sie sich mit einem gebundenen Mann einlassen. Betrug, Fremdgehen, Lügen: was schlimmeres kann ein Mensch einem anderen nicht antun. Sie weiß, wovon sie redet ...return
"Ich ficke Dich - Du kleine süße Schlampe"
Ich sollte mal im Internet recherchieren, ob es irgendwo ein Wörterbuch für den fickenden Mann an und für sich gibt.
Vor zwei Stunden war er irgendwie eloquenter. Nun ja, das war beim Essen. Da gibt man sich noch Mühe, auch wenn beide längst wissen, wie und wo das enden wird.
Er erzählte mir von seinen bisherigen Begegnungen über Joy. "Da gab es durchaus skurrile Begebenheiten" und "Nein, meine Frau weiß nicht, dass ich hier bin." Kommunikation über das Medium, über das man sich kennengelernt hat, ist immer in der Unterhaltung bei einem Date inbegriffen - Metakommunikation. Nun weiß ich wenigstens, warum ich Kommunikationswissenschaften studiert habe.
Er:
Mike_44_aus_F. Sie heißen immer Mike oder Tom oder Fred oder Steve - ihre soliden deutschen Namen müssen den moderne Zeiten weichen. Sie sind immer Mitte 40 - oder haben sich virtuell auf dieses Alter verjüngt. Sie sind immer erfolgreich - und nun an die Grenzen ihres Erfolges gestoßen. Sie sind selbstständig oder Vertriebler. Vertriebler sind immer eloquent - sie verkaufen während des Tages das Produkt ihrer Firma, am Abend den Traum von Zuwendung und Gesellschaft an einsame Frauen und des Nachts ihren Körper als immer potenter Liebhaber. Sie haben eine Frau und die statistischen beiden wohlgeratenen Kinder daheim - und sie reisen durch Deutschland und gönnen sich nach vollbrachter Pflicht ein wohlverdientes Abenteuerreturn
Nach dem Essen verfügten wir uns in das praktischerweise direkt zum Restaurant gehörige Hotel. Monsieur war bereit für den Abend ordentlich etwas springen zu lassen. Essen, Hotelzimmer für zwei Stunden ("Ich muss dann weiterfahren und woanders auf der Strecke übernachten. Ich habe morgen früh noch einen Termin"). Rechnerisch kalkuliert ordnet mich das irgendwo zwischen flatrate-Bordell und Edel-Callgirl ein - aber er hatte, nicht zu vergessen, das Siegesbewußtsein eine Frau durch Flirten in Wort, Bild und Ton für sich erobert zu haben.
Ich doch sicher auch, oder? Nun ja, die Alternative wäre ein Abend mit Günter Jauch und seinem Quiz, mit Freundinnen und Bekannten ausgetauschte Nachrichten und ein paar sinnvoll-sinnfreie Beiträge im Forum gewesen.
Sie entdecken sich in der schnöden Welt des Sex von A - Z, nennen es aber stilvolle Erotik, um sich selber darüber hinwegzutäuschen, wie banal ihr Tun ist. Sie braucht - besonders nach der Schmach des Verlassenwerdens - die Bestätigung noch attraktiv zu sein. Er braucht - ohne besonderen Grund, aber auf Nachfrage würden ihm sicher viele einfallen - gelegentlich fremde Haut.
Beiden hilft solch ein Abend den tristen Alltag besser zu ertragen, und da sie sich gegenseitig und sich selbst über die schnöde Realität hinwegtäuschen, kann so eine Episode auf beiden Seiten als Erfolg verbucht werden.return
Im Zimmer entledigten wir uns unserer Kleider - na klar hatte ich in Erwartung des wahrscheinlich Unvermeidlichen geduscht, die lästigen Körperhaare entfernt und die erotischen Dessous angezogen: Frau kann nicht erst mit Bildern locken und dann nicht halten, was diese versprechen. Das übrige Grauen meines Körpers bleibt - wie bereits erwähnt - im Zwielicht.
Dann wurde das Programm abgespult: Küsse, ein paar Streicheleinheiten an unverfänglicheren Stellen, vorsichtiges aber dennoch zielstrebiges Vordringen in intimere Regionen (die Uhr tickt, die zugemessene Zeit läuft) ...
Gerade, als ich ihm den Blowjob seines Lebens (erwähnte ich bereits, wie sensationell gut ich blasen kann?) ..., klingelte sein Handy ... (stellt der Mann von Welt nicht beim Ficken sein Handy ab?), und er erschlaffte in meinem Mund. Nach kurzem Zögern komplimentierte er mich ins Bad "Ich muss mal kurz telefonieren und hole Dich dann wieder ". Ich gehorchte, vertrieb mir die Zeit mit gelangweiltem Pinkeln und auf einem Handtuch auf dem Rand der Badewanne sitzend und bemühte mich, die Wortfetzen, die durch die geschlossene Tür dringen wollten, angelegentlich zu überhören-hören.
"Nein, Schatz, ich war in der Hotelbar und habe es erst nicht gemerkt, dass das Telefon ..."
"Ja, Schatz, ich hatte einen anstrengenden Arbeitstag und wollte nur schnell eine Kleinigkeit trinken ..."
"Nein, Schatz, auch wenn morgen Samstag ist, hab ich noch einen Geschäftstermin ..."
"Ja, Schatz, ich liebe Dich ..."
"Schlaf gut, Schatz ... bis morgen, Schatz ... Bussi, Bussi, Schatz"
Bei dieser Art von Geschichten müssen die Protagonisten tunlichst das Nachdenken vermeiden. Befriedigender Sex und quälende Gedanken schließen sich aus. Schließlich will man ja was davon haben, wenn man schon
a) gegen sämtliche moralische Prinzipien verstößt (Sie - s.o.)
bzw.
b) soviel Zeit und Geld für einen kurzen Fick investiert hat (Er - s.o.)return
Nach dem Ende des Telefonats, nehmen wir unser Treiben wieder auf (s.o.) Beiden Beteiligten gelingt es, das Geschehen zu einem befriedigenden Abschluss zu bringen. Ja, er weiß meine Knöpfchen zu drücken und Ja, ich habe einen, was sag ich, mehrere Orgasmen und Ja, ich bin auf einer Skala von 1 - 10 (auf der ich alle meine Liebhaber ranke) mit einer guten 5 - eben durchschnittlich - befriedigt.
Die Uhr tickt - er zieht sich hastig an und verabschiedet sich - immerhin hat er noch eine Fahrt von 150 km vor sich und das nach Mitternacht.
Ich kuschel mich - allein gelassen - zufrieden ins Hotelbett (denn ich habe mir ausbedungen, mich jetzt nicht mehr anziehen und heimbringen lassen zu müssen), mache mir einen Tee, zappe mich durch die Fernseh-Programme und schlafe entspannt ein.
"Nein", meint mein innerer Zensor, "diese Geschichte ist zu alltäglich und banal, um sie zu erzählen. Da passiert doch nichts, was es nicht täglich irgendwo in Deutschland und mithilfe einer Flirtbörse gibt. Denk Dir was Interessanteres aus, schreib nicht immer über Sex. Wer interessiert sich schon für Deine Blümchen-Sex-Episoden so ganz ohne Bondage und Hiebe, das bißchen Oralverkehr und vaginale Penetration? Wie wäre es denn mit einem Märchen?"
Ich muss ihm rechtgeben! return
Am nächsten Morgen bleibe ich nach dem Erwachen noch eine Weile liegen, mache mir einen Kaffee, rauche im Bad bei geöffnetem Fenster die im Nichtraucher-Hotel verbotene Zigarette, fühle mich ein bisschen verrucht, ziehe mich dann an und verlasse das Hotel. Langsam geh ich durch die schon zur Geschäftigkeit erwachte Stadt, ohne auf die Menschen um mich herum zu achten. Unter meinen Füßen raschelt das welke Herbstlaub. Die Sonne des späten Oktobers schickt wärmende Strahlen auf mich herab.
Ich bin müde und ich friere
Innerlichreturn