Die Erben des Todes
Hagen Waslawik zog die Handschuhe an und stieg über die Leiche hinweg, um in die Wohnung zu gelangen. Er drehte sich um und sah sich das tote Mädchen genau an. Es sah aus wie 20, war aber höchstens 16 Jahre alt. Der Schnitt war mit Präzision geführt worden. Er legte sich gleichmäßig um den Hals, vielleicht war ein Skalpell benutzt worden. Das arme Ding hatte keine Chance gehabt, ein solcher Schnitt war nur von hinten auszuführen. Das wiederum bedeutete, dass der Täter oder die Täterin sich hinter dem Opfer befunden hatte.
„Welches 16jährige Mädchen wendet einem unbekannten Menschen den Rücken zu, um vor ihm in die Wohnung zu gehen?“, fragte er. Niemand antwortete. Alle im Team hatten sich an seine Selbstgespräche gewöhnt. Er notierte die Frage auf dem Tablet und sah sich weiter um. Keine blutigen Fußspuren, nichts sprach dafür, dass der Täter oder die Täterin hinterher die Wohnung betreten hatte. Es war überhaupt erstaunlich wenig Blut vorhanden, zumindest für einen Schlagaderschnitt. Aber wenn sauber gemacht worden wäre, wäre gar nichts zu sehen. Er runzelte die Stirn.
In diesem Moment betrat Maren Sabelnek den Raum. Flüchtig bemerkte er die Eleganz ihrer Bewegungen. Maren trat eigentlich nicht ein, sie schien stets diskrete Tanzschritte zu machen. Es war ihm schleierhaft, wie sie das lautlos bewerkstelligen konnte, denn sie trug klobige Springerstiefel. Nicht irgendein modisches Pendant, sondern das originale Modell 2000. Nichts an Marens Erscheinung wirkte weiblich. Sie war mittelgroß, drahtig und trug einen sehr kurzen Kurzhaarschnitt. Ihre Kleidung war praktisch bis burschikos. Und doch schien sie durch die Welt zu schweben. Und obendrein war sie die Zuverlässigkeit in Person, wenn es um Recherchen ging.
Dann stand sie neben ihm. „Ihr Name ist Anna-Lena Schmidtmeier. 14 Jahre alt, Gymnasiastin, sehr gutes Elternhaus. Sie verschwand vorgestern Abend gegen 21.00 Uhr auf dem Weg von ihrer Großmutter zu ihrer Patentante. Bei der wohnt sie derzeit, weil ihre Eltern verreist sind. Die Strecke zwischen den beiden Wohnungen beträgt weniger als 500 Meter und ist gut ausgeleuchtet. Die Großmutter hat die Patentante angerufen, als das Mädchen ging. Doch Anna-Lena kam nicht an.“
„Was heißt 'sehr gutes Elternhaus'?“
Maren schaute Hagen irritiert an. In manchen Dingen war er wirklich erstaunlich uninformiert. „Schmidtmeier... der Seifenfabrikant. Alter Familienbetrieb in der achten Generation. Sie produzieren alles, von Kernseife über Flüssigseife für den Klinikbereich bis hin zur Manufakturseife, von der ein Stück 200 Euro kostet.“
„Wer zahlt 200 Euro für ein Stück Seife?“. Hagen starrte sie entsetzt an.
„Jeder, der es sich leisten kann und eine Haut wie Seide haben möchte“, zischte sie ihn an. Sie hasste es wie die Pest, wenn er mit Moralin gegurgelt hatte.
Hagen trat ein paar Schritte zurück und zog die Luft hörbar durch die Zähne ein. Sie lag ganz gerade da, nicht so verrenkt wie Arnoldi. Verdammt, er musste sich konzentrieren. Er war nicht Schuld gewesen. Er wusste es, und alle hatten es ihm bestätigt. Nein, er gab nicht auf. Er ging nicht zur Wirtschaftskriminalität. Er wurde der verdammt beste Spürhund der Abteilung. Arnoldi, wo immer er jetzt war, sollte ihn nicht umsonst unter seine Fittiche genommen haben.
„Wie weit sind die Ermittlungen bezüglich ihres Verschwindens?“
„Die Kollegen ermitteln in alle Richtungen.“
„Heb dir die Phrasen für die PK auf!“
Maren fletschte die Zähne. „Bis du oder ich auf einer Pressekonferenz was sagen dürfen, wird noch eine Weile vergehen. Mal abgesehen davon, dass es in diesem Fall keine PK gab und auch nicht geben wird. Die Eltern sind auf einem Parfümkongress in Mailand. Statt ihrer tauchten zwei Anwälte auf, die mit Augenzwinkern behaupteten, das Mädchen wäre wegen schlechter Schulnoten abgetaucht und bestimmt bei einer Freundin.“
„Das stinkt gewaltig“, knurrte Hagen.
„Natürlich stinkt das. Vor allem, weil jemand beschlossen hat, die Ermittlungen aufgrund dieser Aussage nur noch in diese Richtung zu verfolgen. Die ganze Abteilung telefoniert seitdem mit allen Mädchen, die sie gekannt haben könnte. Zum Glück ist ihre Freundesliste bei Facebook überschaubar. Nur 275 Einträge.“
Hellmann! Maren musste seinen Namen gar nicht nennen. Was dem Arsch an Weitblick fehlte, machte er durch Inkompetenz wett. Aber seit er es geschafft hatte, Arnoldis Suizid aus den Medien herauszuhalten, hatte er Narrenfreiheit. Hagen bekam Hasspickel, wenn er an den Typen nur dachte. Und dem hatte er mal vertraut! In ihm kochte und brodelte es. Es wandte sich ab, damit Maren es nicht bemerkte. Nur, um irgendetwas zu tun, ging er zum Bücherregal. Reiseführer über diverse italienische Regionen und Kochbücher. Da fiel ihm etwas auf. Er bückte sich. Auf den Büchern des unteren Brettes lag eine schmale Mappe. Er zog sie nach vorne und öffnete sie. Rautiertes Papier, offensichlich aus einem Collegeblock gerissen, lila Tinte, der ein leichter Veilchenduft entwich.
„Mein Begehren nach dir wird immer stärker...“ Ihm wurde übel. Er drehte sich um. „Wem gehört diese Wohnung?“, fragte er.
„Tja“, sagte Maren. „Das ist merkwürdig. Das Haus gehört den Schmidtmeiers. Aber es gibt niemanden, der hier amtlich gemeldet wäre.“
„Acht Wohnungen in 1 A Lage und niemand wohnt hier?“ Hagens Alarmglocken schrillten laut.
In diesem Moment betrat Hellmann den Raum. „Geht hier eigentlich niemand an sein Handy? Es gibt keinen Grund, mit der halben Belegschaft in einem Selbstmord zu ermitteln. Ab an den Hafen mit ihnen. Der Zoll braucht unsere Unterstützung!“
© Sylvie2day, 21.10.2012
P.S.: Dies ist eine lose Fortsetzung zu
Kurzgeschichten: Der Freudendieb