Müde
Keine Sorge, ich bin nicht immer so blutrünstig. Nein, eigentlich bin ich nie blutrünstig. Aber wo, wenn nicht hier, kann ich meine Träume wegschreiben?Müde… so müde
Der Kerl wollte mir den Finger abbeißen. Dieser hässliche alte Sack. Warum kann er mich nicht in Ruhe lassen?
Ausgerechnet meinen Finger. Ich liebe meine Hände so wie sie sind, mit schlanken und vor allem mit jeweils fünf Fingern.
Letzte Woche hat er mir meine linke Kniescheibe abgerissen.
Er ist hässlich, abgrundtief hässlich, und er redet nie ein Wort. Wenn ich ihn nur nicht so hassen und fürchten würde. Seine Haare alleine wären lustig, sie erinnern mich an Catweazle, sind grau und fliegen um seinen Kopf. Das Gesicht darunter ist wettergegerbt, tief gebräunt und faltig wie ein Stück Stoff, das im Trockner vergessen wurde. Tiefe Furchen ziehen sich von den Augen bis zu den Mundwinkeln und einige noch ein Stück weiter hinunter bis fast zum Kinn.
Seine Augen sind unglaublich. Wenn ich diesen Blick nicht so fürchten würde, wäre ich fasziniert. Sie leuchten in hellem blau, sind hellwach und böse. Böse. Richtig böse.
Es gibt Zeiten, in denen ich zur Ruhe komme und glaube, es wäre überstanden. Zwei oder drei Wochen vielleicht. Zeit des Atmens und der Gelassenheit. Aber gerade dann, wenn Gelassenheit einkehrt, ist er da und erschreckt und ängstigt mich umso mehr.
Er taucht nicht nur dann auf, wenn finstere Nacht herrscht oder ich alleine bin. Er erscheint am hellen Tag oder wenn ich inmitten einer Menschenmenge stehe und mich sicher fühle. Auf diese Art hat er sich meine Nase geholt. Er war plötzlich da und riss sie mir aus dem Gesicht. Genau in dem Moment, als ich über einen wirklich guten Witz meines Nachbarn lachte, das Sektglas zum Prosit erhoben. Eben noch Gelächter und dann plötzlich diese Sauerei. Überall Blut. Wie soll man das erklären? Wie soll man erklären, dass dort, wo eben noch eine Nase war, jetzt ein eklig blutendes Loch ist?
Bei der Kniescheibe war ich wenigstens alleine. Widerwille und Hass bleiben, aber immerhin muss ich mich nicht erklären. Wie könnte ich auch?
Wer glaubt schon, wie real Träume sein können? Soll ich tatsächlich den Versuch wagen, jemanden zu sagen, dass ich rechts keine Pobacke mehr habe, weil ich wagte, einzuschlafen? Dass meine Füße fehlen, nur weil ich im Schlaf unachtsam war?
Seit zwei Tagen sitze ich in meinem Rollstuhl und wehre mich gegen Müdigkeit und Schlaf, kann nicht mehr zählen, wie viele Tassen Kaffee ich getrunken und wie viele Tabletten gegen Müdigkeit ich genommen habe.
Ich habe die Zeit genutzt und geübt. Deswegen sind mir auch meine Finger so wichtig. Neben mir liegen Werkzeuge und Waffen. Ich schleppte mühevoll den ganzen Messerblock aus der Küche hierher, dann liegt hier noch ein Korkenzieher – was immer er bringen mag – und eine Mistgabel konnte ich auch auftreiben. Ich habe geübt, mit diesen lächerlichen Waffen umzugehen. Wenn er es schafft, Grenzen zu übertreten, wird es doch auf mir irgendwann gelingen. Soll meine Rettung nur im rechtzeitigen Aufwachen bestehen?
Ich habe Angst, aber ich bin müde, so müde. So unglaublich müde.