The sniper
Wie erschießt man einen Menschen?Stellen Sie sich eine dieser Jahrmarktsbuden vor, auf einer Stahlkette montiert, paradieren kleine Blechentchen vorbei, Sie stützen die Ellenbogen auf der Theke ab, legen mit diesem kleinen lächerlichen Luftgewehr an - und peng! Als Belohnung für zehn präzise getroffene Entchen erhalten sie einen großen Plueschbaeren.
Ich liege auf dem Dach des ausgebombten Holiday Inns, die Arme auf einer durch Schüsse pockennarbig zerloecherten Brüstung aufgestützt, lege mit meinem amerikanischen Präzisionsgewehr an - und peng.
Nein, ich verstehe diesen Krieg nicht, es ist nichts Persönliches, es ist mein Job.
Morgens werde ich von den Parteigenossen mit einem Jeep im Lager abgeholt - meine Eltern denken, ich arbeite irgendwo auf dem Bau - und wir fahren zu unseren Einsatzorten an der "grünen Linie". Auf vielen Dächern der zerstörten Hochhäuser im ehemals blühenden Zentrum der Stadt sitzt einer von uns, und wir verbreiten Angst und Schrecken auf der anderen Seite der Demarkationslinie, die die Stadt seit drei Jahren teilt.
Seit drei Jahren lebe ich wieder hier. Ich bin der Sohn, der meinen Eltern nach dem Massaker in unserem Lager geblieben ist. Meine drei Schwestern und meine Brüder wurden von den Phalangisten brutal abgeschlachtet, meine Eltern konnten durch einen unterirdischen Tunnel fliehen. Als sich die Lage beruhigt hatte, kehrten sie in das Lager zurueck und halfen beim Aufräumen der Leichen. Seit sie mit ihren Eltern als Kinder aus ihrem Land fliehen mussten, haben sie keine andere Heimat.
Nein, ich verstehe diesen Krieg nicht, es ist nichts Persönliches, es war ihr Job.
Als ich erfuhr, was geschehen war, kehrte ich aus Deutschland zurück. Ich erklärte Sylvia, dass es in unserer Kultur ueblich ist, dass ein erwachsener Sohn die Verantwortung für seine Eltern uebernehmen muss, wenn es niemand anderen mehr gibt. Wir haben keine Sozialversicherung, keine Arbeitslosenversicherung, keine Krankenversicherung wie in Deutschland. Mit Traenen in den Augen ließ sie mich gehen. Ich versprach ihr wiederzukommen - nach dem Krieg.
Nein, ich verstehe diesen Krieg nicht, es ist nichts Persönliches, es ist ein Job.
Eigentlich wollte ich Arzt werden und anderen Menschen helfen. Ich war gut in der Schule und hätte die Abiturprüfung mit Leichtigkeit bestanden. Wenige Wochen vor dem Examen wurde ich an einem der checkpoints, die ich auf dem Weg zur Schule passieren musste, angehalten. Ein syrischer Soldat kontrollierte meine Papiere, aber die waren unverdaechtig, da mein Vater für viel Geld eine Carte d'identite für mich besorgt hatte.
"Sag Tomate!", herrschte mich der Soldat an.
"Tomte" stammelte ich verwirrt. In unserem Dialekt, der ansonsten dem einheimischen sehr ähnlich ist, wird das Wort so ausgesprochen.
Ich wurde abgeführt. Nach wochenlanger Folter entließ man mich aus dem kleinen, verdreckten Militargefaengnis, da man erkannte, dass ich als 18jaehriger Schuljunge doch noch keine Verbindungen zur Partei hatte.
Nein, ich verstehe diesen Krieg nicht, es ist nichts Persoenliches, es war nur ihr Job.
Mein Vater bestach viele der Verantwortlichen in den Ämtern und Wochen später hatte ich einen Reisepass, ein Flugticket nach Ostberlin und das nötigste an Bekleidung für meine Reise in das Land, in dem man einen Baum schüttelt, und es fallen Goldstücke herab. Wieder kam ich in ein Lager. Wochen vergingen, Monate, ein Jahr, zwei Jahre. Erstaunlicherweise entschied ein deutscher Richter, meinen Antrag auf Asyl trotz der Folterungen und der Gefahr, getötet zu werden, abzuweisen. Da man uns - denn wir waren viele - aber aus humanitären Gruenden nicht in ein Bürgerkriegsland zurueckschicken konnte, erhielten wir eine "Duldung", die alle sechs Monate verlängert werden musste. Wir durften kein Deutsch lernen, wir durften nicht arbeiten, wir durften das kleine Dorf, dem wir zugewiesen worden waren, nicht verlassen
Nein, sie verstehen diesen Krieg nicht, es ist nichts Persönliches, es ist nur ihr Job.
Am Wochenende gingen wir gelegentlich in die Dorfdisco, misstrauisch beaeugt von den jungen Männern, heimlich angeschwärmt von den jungen Mädchen wegen unserer dunklen Locken und glutvollen Augen. Eines Tages lernte ich Sylvia kennen, blond, zierlich, blauäugig und wir verliebten uns sofort ineinander. Unsere Liebe half uns, viele Missverstaendnisse zu überwinden. Als ich gehen musste, versprach ich ihr, dass sie auch unserer Trennung überstehen würde.
Nein, ich verstand diesen Krieg nicht, es war nichts Persoenliches, es war nur mein Job.
Zurueck in Beirut versuchte ich zunächst Arbeit zu finden - irgendetwas, um für mich und meine Eltern sorgen zu können, aber wer gibt in einer Stadt voller Arbeitslosen ausgerechnet einem dahergelaufenen Palästinenser Arbeit? Abends traf ich mich mit meinen Altersgenossen im Kaffeehaus und wir spielten tauwla. Eines Abends gesellte sich einer der Parteifunktionäre zu uns und erzählte uns mit leidenschaftlichen Worten vom Einsatz für unser Land, für unsere Sache und gegen unsere Feinde.
Nein, ich verstehe diesen Krieg nicht, es ist nichts Persönliches, es ist nur ein Job.
Ich liege auf dem Dach, meine Arme aufgestützt auf einer kleinen zerschossenen Mauer, das Gewehr liegt schwer in meiner Hand, die Sonne brennt. Durch das Zielfernrohr beobachte ich die Grenze, heute sind nur wenige Menschen unterwegs, es ist Ostern, ein Feiertag für die Christen, und die Geschäfte auf der anderen Seite der Linie sind geschlossen. Dicht ueber mir braust eine Maschine der MEA heran. Ich gerate ins Träumen. Ob sie wohl aus Deutschland kommt? Ich beobachte weiter die Strasse, es scheint fast, als könnte ich heute meinen Job nicht erledigen. Doch dann bewegt sich etwas in meinem Visier. Es ist eine junge Frau in einem schwarzen langen Mantel, ihre Haare von einem Kopftuch verdeckt. An ihrer Hand laeuft ein kleines Mädchen, blondgelockt, ich kann ihre großen blauen Augen erkennen. Ich lege an, ich ziele, ich drücke ab. Auf der Stirn des Kindes breitet sich ein Blutfleck aus, groß und dunkel wie eine vollerblühte Rose, es bricht auf dem Boden zusammen und ist tot, die junge Frau flieht in Panik.
Nein, ich verstehe diesen Krieg nicht, es ist nichts Persönliches, es ist nur mein Job.
Als ich abends nach Hause komme, höre ich das Schreien und Wehklagen meiner Mutter, in ihren Armen wiegt sie zärtlich eine junge Frau in einem schwarzen langen Mantel - verwirrt erkenne ich Sylvia. Mein Vater steht mit versteinertem Gesicht neben den beiden Frauen und hält mir anklagend das Bild eines kleinen blondgelockten lachenden Mädchens entgegen. "Die Schweine haben deine Tochter ermordet" flucht er.
Ja, nun verstehe ich diesen Krieg, es ist etwas sehr Persoenliches und es ist ein unmenschlicher Job.