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The sniper

In to the void - beauty goes „vertigo“
******ool Frau
31.610 Beiträge
Themenersteller 
The sniper
Wie erschießt man einen Menschen?

Stellen Sie sich eine dieser Jahrmarktsbuden vor, auf einer Stahlkette montiert, paradieren kleine Blechentchen vorbei, Sie stützen die Ellenbogen auf der Theke ab, legen mit diesem kleinen lächerlichen Luftgewehr an - und peng! Als Belohnung für zehn präzise getroffene Entchen erhalten sie einen großen Plueschbaeren.

Ich liege auf dem Dach des ausgebombten Holiday Inns, die Arme auf einer durch Schüsse pockennarbig zerloecherten Brüstung aufgestützt, lege mit meinem amerikanischen Präzisionsgewehr an - und peng.

Nein, ich verstehe diesen Krieg nicht, es ist nichts Persönliches, es ist mein Job.

Morgens werde ich von den Parteigenossen mit einem Jeep im Lager abgeholt - meine Eltern denken, ich arbeite irgendwo auf dem Bau - und wir fahren zu unseren Einsatzorten an der "grünen Linie". Auf vielen Dächern der zerstörten Hochhäuser im ehemals blühenden Zentrum der Stadt sitzt einer von uns, und wir verbreiten Angst und Schrecken auf der anderen Seite der Demarkationslinie, die die Stadt seit drei Jahren teilt.

Seit drei Jahren lebe ich wieder hier. Ich bin der Sohn, der meinen Eltern nach dem Massaker in unserem Lager geblieben ist. Meine drei Schwestern und meine Brüder wurden von den Phalangisten brutal abgeschlachtet, meine Eltern konnten durch einen unterirdischen Tunnel fliehen. Als sich die Lage beruhigt hatte, kehrten sie in das Lager zurueck und halfen beim Aufräumen der Leichen. Seit sie mit ihren Eltern als Kinder aus ihrem Land fliehen mussten, haben sie keine andere Heimat.

Nein, ich verstehe diesen Krieg nicht, es ist nichts Persönliches, es war ihr Job.

Als ich erfuhr, was geschehen war, kehrte ich aus Deutschland zurück. Ich erklärte Sylvia, dass es in unserer Kultur ueblich ist, dass ein erwachsener Sohn die Verantwortung für seine Eltern uebernehmen muss, wenn es niemand anderen mehr gibt. Wir haben keine Sozialversicherung, keine Arbeitslosenversicherung, keine Krankenversicherung wie in Deutschland. Mit Traenen in den Augen ließ sie mich gehen. Ich versprach ihr wiederzukommen - nach dem Krieg.

Nein, ich verstehe diesen Krieg nicht, es ist nichts Persönliches, es ist ein Job.

Eigentlich wollte ich Arzt werden und anderen Menschen helfen. Ich war gut in der Schule und hätte die Abiturprüfung mit Leichtigkeit bestanden. Wenige Wochen vor dem Examen wurde ich an einem der checkpoints, die ich auf dem Weg zur Schule passieren musste, angehalten. Ein syrischer Soldat kontrollierte meine Papiere, aber die waren unverdaechtig, da mein Vater für viel Geld eine Carte d'identite für mich besorgt hatte.
"Sag Tomate!", herrschte mich der Soldat an.
"Tomte" stammelte ich verwirrt. In unserem Dialekt, der ansonsten dem einheimischen sehr ähnlich ist, wird das Wort so ausgesprochen.
Ich wurde abgeführt. Nach wochenlanger Folter entließ man mich aus dem kleinen, verdreckten Militargefaengnis, da man erkannte, dass ich als 18jaehriger Schuljunge doch noch keine Verbindungen zur Partei hatte.

Nein, ich verstehe diesen Krieg nicht, es ist nichts Persoenliches, es war nur ihr Job.

Mein Vater bestach viele der Verantwortlichen in den Ämtern und Wochen später hatte ich einen Reisepass, ein Flugticket nach Ostberlin und das nötigste an Bekleidung für meine Reise in das Land, in dem man einen Baum schüttelt, und es fallen Goldstücke herab. Wieder kam ich in ein Lager. Wochen vergingen, Monate, ein Jahr, zwei Jahre. Erstaunlicherweise entschied ein deutscher Richter, meinen Antrag auf Asyl trotz der Folterungen und der Gefahr, getötet zu werden, abzuweisen. Da man uns - denn wir waren viele - aber aus humanitären Gruenden nicht in ein Bürgerkriegsland zurueckschicken konnte, erhielten wir eine "Duldung", die alle sechs Monate verlängert werden musste. Wir durften kein Deutsch lernen, wir durften nicht arbeiten, wir durften das kleine Dorf, dem wir zugewiesen worden waren, nicht verlassen

Nein, sie verstehen diesen Krieg nicht, es ist nichts Persönliches, es ist nur ihr Job.

Am Wochenende gingen wir gelegentlich in die Dorfdisco, misstrauisch beaeugt von den jungen Männern, heimlich angeschwärmt von den jungen Mädchen wegen unserer dunklen Locken und glutvollen Augen. Eines Tages lernte ich Sylvia kennen, blond, zierlich, blauäugig und wir verliebten uns sofort ineinander. Unsere Liebe half uns, viele Missverstaendnisse zu überwinden. Als ich gehen musste, versprach ich ihr, dass sie auch unserer Trennung überstehen würde.

Nein, ich verstand diesen Krieg nicht, es war nichts Persoenliches, es war nur mein Job.

Zurueck in Beirut versuchte ich zunächst Arbeit zu finden - irgendetwas, um für mich und meine Eltern sorgen zu können, aber wer gibt in einer Stadt voller Arbeitslosen ausgerechnet einem dahergelaufenen Palästinenser Arbeit? Abends traf ich mich mit meinen Altersgenossen im Kaffeehaus und wir spielten tauwla. Eines Abends gesellte sich einer der Parteifunktionäre zu uns und erzählte uns mit leidenschaftlichen Worten vom Einsatz für unser Land, für unsere Sache und gegen unsere Feinde.

Nein, ich verstehe diesen Krieg nicht, es ist nichts Persönliches, es ist nur ein Job.

Ich liege auf dem Dach, meine Arme aufgestützt auf einer kleinen zerschossenen Mauer, das Gewehr liegt schwer in meiner Hand, die Sonne brennt. Durch das Zielfernrohr beobachte ich die Grenze, heute sind nur wenige Menschen unterwegs, es ist Ostern, ein Feiertag für die Christen, und die Geschäfte auf der anderen Seite der Linie sind geschlossen. Dicht ueber mir braust eine Maschine der MEA heran. Ich gerate ins Träumen. Ob sie wohl aus Deutschland kommt? Ich beobachte weiter die Strasse, es scheint fast, als könnte ich heute meinen Job nicht erledigen. Doch dann bewegt sich etwas in meinem Visier. Es ist eine junge Frau in einem schwarzen langen Mantel, ihre Haare von einem Kopftuch verdeckt. An ihrer Hand laeuft ein kleines Mädchen, blondgelockt, ich kann ihre großen blauen Augen erkennen. Ich lege an, ich ziele, ich drücke ab. Auf der Stirn des Kindes breitet sich ein Blutfleck aus, groß und dunkel wie eine vollerblühte Rose, es bricht auf dem Boden zusammen und ist tot, die junge Frau flieht in Panik.

Nein, ich verstehe diesen Krieg nicht, es ist nichts Persönliches, es ist nur mein Job.

Als ich abends nach Hause komme, höre ich das Schreien und Wehklagen meiner Mutter, in ihren Armen wiegt sie zärtlich eine junge Frau in einem schwarzen langen Mantel - verwirrt erkenne ich Sylvia. Mein Vater steht mit versteinertem Gesicht neben den beiden Frauen und hält mir anklagend das Bild eines kleinen blondgelockten lachenden Mädchens entgegen. "Die Schweine haben deine Tochter ermordet" flucht er.

Ja, nun verstehe ich diesen Krieg, es ist etwas sehr Persoenliches und es ist ein unmenschlicher Job.
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
Beeindruckend, lakonisch, beklemmend - und leider, leider nur allzu wahr.

Großartig geschrieben! Vor allem, weil keine sich anbiedernde Sentimentalität vorkommt und die Geschichte dennoch eiskalt mitten ins Herz trifft!

(Der Antaghar)
Dem ist wohl nichts hinzuzufügen. Großartig geschrieben!
In to the void - beauty goes „vertigo“
******ool Frau
31.610 Beiträge
Themenersteller 
Danke @antaghar und gud_rune
hier noch etwas zum hintergrund

http://www.fr-online.de/poli … oetens,1472596,17265726.html
Es tut weh DAS zu lesen - -

weil es leider die Realität ist.

*blumenschenk* Ev
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
@ bjutifool
Danke für den Link!

Ist es nicht deprimierend und erschreckend zugleich, wozu Menschen fähig sind?

Wir wissen es ja seit langem. Und die Milgram- und Stanford-Experimente haben es ja anschaulich bewiesen.

Da sieht man, wohin unterdrückte Aggressionen führen können, wenn sie denn mal ausbrechen! Und es ist völlig egal, wogegen oder wofür diese brutalen Killer dann kämpfen - irgendwer ist immer ein Feind.

Ich werde die Menschen wohl niemals begreifen ...

(Der Antaghar)
In to the void - beauty goes „vertigo“
******ool Frau
31.610 Beiträge
Themenersteller 
Ich gebe es zu
Ich werde die Menschen wohl niemals begreifen ...

Auch fuer mich sind Menschen, die zu so etwas fähig sind, schwer zu begreifen. Ich kann auch nicht entscheiden, welche Art des Tötens ich grausamer finde: das, was in dem Artikel über das dahinschlachten von Menschen in den lagern geschildert wird oder das kaltblütige töten durch Scharfschützen.

Trotzdem habe ich versucht, meinem "nicht-Helden" einen human Touch zu geben

Was ich mit diesen Geschichten aber auch deutlich machen will - mit dieser hier und den alltäglichen Begebenheiten, die ich tatsächlich erlebt habe Kurzgeschichten: Kleine Geschichten aus einem vergessenen Krieg ist, dass wir als vom Frieden seit fast 70 Jahren verwöhnte Menschen gar nicht nachvollziehen können, was Krieg ist ...
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
Gerade dass Du Deinem Protagonisten einen humanen Touch verliehen hast und ihn nicht als "Monster" beschrieben hast, ist es Dir auch gelungen, diese eiskalte Mechanik von Krieg und Töten zu verdeutlichen, der man wohl auch dann unterliegt, wenn man sich das heute, in Zeiten des Friedens, gar nicht vorstellen kann.

Das besonders Erschreckende daran ist doch, dass all diese Menschen, die in solchen Situationen eiskalt und brutal, teilweise sadistisch töten, im Privatleben oft genug richtig nette Kerle sind, denen man das gar nicht zutrauen würde.

Das ist ja auch an den genannten Experimenten das, was da besonders auffällt. Auch der eiskalte KZ-Wächter war damals oft genug zu Hause ein ganz normaler, oft genug sogar liebevoller Mensch.

Letztlich müssen wir wohl daraus schließen, dass wir alle so etwas in uns haben ...

(Der Antaghar)
In to the void - beauty goes „vertigo“
******ool Frau
31.610 Beiträge
Themenersteller 
Oh ja
wir wissen alle nicht, ob wir im zweiten weltkrieg auf der "bequemen" Seite des Systems gestanden hätten - egal in welcher Form - oder uns für den "unbequemen" Widerstand entschieden hätten ...

Hier noch mehr zum Hintergrund des Kampfes an der "Green line"

http://en.wikipedia.org/wiki/Battle_of_the_Hotels

Als ich von 96 bis 99 in Beirut gelebt habe, haben die "scorpions" einen Videoclip in einem der zerstörten Hotelbauten gedreht ... Wenn ich es morgen wieder technisch kann, werde ich es einstelllen
toll geschrieben!
...
bow... hilflose Gänsehaut...
*********ested Mann
435 Beiträge
Sehr dicht! Gefühl und Kopf vereint.
**********_stgt Frau
1.355 Beiträge
Unglaublich ...
... eindringlich ... erschütternd ... Deine Geschichte!

*top* Sehr gut geschrieben!
****is Frau
9.947 Beiträge
Ich weis gar nicht was ich sagen soll?
Ich hab Tränen in den Augen!
Gut geschrieben. Ich hoffe aber, dass es doch erfunden ist. Und kein Elternteil sollte das jemals erleben und durchmachen müssen.
In to the void - beauty goes „vertigo“
******ool Frau
31.610 Beiträge
Themenersteller 
Nun
wahr ist, dass es im Libanon von 1975 bis 1990 einen Bürgerkrieg gab
Wahr ist, dass es 1982 das Massaker in Sabra und schatila gab
Wahr ist, dass viele libanesen und Palästinenser in der Zeit nach Deutschland flüchteten
Wahr ist, dass keinem von ihnen hier Asyl bewährt wurde
Wahr ist, dass asylanten in Deutschland unter diesen Bedingungen leben
Wahr ist, dass einige von ihnen sich in deutsche Frauen verliebten und mit ihnen Kinder haben
Wahr ist, dass einige auch nur liebe vortaeuschten, um wegen des aufenthaltsstatus und der Staatsangehörigkeit heirateten
Wahr ist, dass palaestinenser durch die abweichende Aussprache des Wortes banadura (Tomate) als bandura erkannt und verhaftet oder gleich erschossen wurden
Wahr ist, dass ein grosser Teil der palästinensischen Flüchtlinge seit teilweise 1949 in allen arabischen Ländern nur Flüchtlingsstatus und keine Papiere haben und un lagern leben müssen
Wahr ist, dass es im libanon eine grosse Schere zwischen superreich und bettelarm gibt und dass es Menschen gibt, die in haeusern mit offenen Fassaden wie in puppenhaeusern leben und Kinder in Müllcontainern nach Wertstoffen wühlen, um diese zu verkaufen
Wahr ist, dass es im libanon kein "soziales Netz" gibt
Wahr ist, dass die Generation derer, die im Krieg aufwuchsen bis heute keine abgeschlossene schul- oder Berufsausbildung haben, eine verlorene Generation ist
Wahr ist, dass es an der grünen Linie auf beiden Seiten scharfschuetzen gab und einen erbitterten Krieg um den hoteldistrikt
Wahr ist, dass diese sniper auf alles schossen, um Terror zu verbreiten - auf Zivilisten: Männer, Frauen, Kinder
Lediglich die besonders grausame Wendung, dass ein sniper in Unkenntnis der Tatsache, dass er ein Kind hat und seine Freundin mit diesem aus Deutschland nachreist, dieses erschiesst ist meiner Fantasie entsprungen

Alle anderen Fakten kenne ich durch mein Studium und habe sie durch meine besuche dort während des krieges - wenn auch gsd nicht persönlich erlebt - aber in Gesprächen mit betroffenen erfahren, und sie sind auch über Net-Recherchen zu verifizieren für alle, die es wissen WOLLEN
eyes002
******ace Mann
15.981 Beiträge
Gruppen-Mod 
Bis auf
einen Scherz, der im Halse stecken bleibt (amerikanisches Präzisions*lol*gewehr), eine tragische Geschichte.
Ein paar kleine Recherchefehler, die aber bei der Wucht des Problems nicht weiter auffallen. Ich hätte "Sniper" durch "Heckenschütze" ersetzt.
Die lakonische Erzählweise versteht man erst, wenn man ds Ende gelesen hat. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich mit deutschen Soldaten zu tun, die aus Kundus kamen. Bjuti´s Erzählstil erinnerte mich sehr an die Art und Weise, wie die Kameraden redeten. Oberflächlich abgestumpft, leer und ausgebrannt. Der Blick starr auf einen Punkt im Jenseits gerichtet, die Gesten schal und aufs Minimum reduziert. Aber unter dieser halbtoten Oberfläche ticken Zeitbomben...
Nichtsdestoweniger habe ich zwei Anträge auf eine Feder hier. Zu Recht.

Tom
Die Feder für Dichte und dafür, dass einem am Ende der Mund offen bleibt... weil es uns hier so verdammt gut geht.
**********_stgt Frau
1.355 Beiträge
Verdient!
Da wird sich Bjuiti mächtig drüber freuen, wenn Sie aus ihrem Urlaub zurück ist!

*cheers* Gratulation! *sekt*
Ich bin tief beeindruckt.
Selten
eine so verdiente "Feder" gelesen
Herbst 2018
***to Mann
4.270 Beiträge
Für mich ganz klar:
That's life!

Auch Hier wird dir nichts geschenkt.

Es ist schön, abgelenkt zu werden.

Bei uns ist es nicht besser - nur anders.

Es ist, ja, es ist super erzählt.


Heinrich
In to the void - beauty goes „vertigo“
******ool Frau
31.610 Beiträge
Themenersteller 
Nun
hier ist die chance des ueberlebens groesser

Und schon allein deswegen -finde ich, sollten wir Gott oder dem Universum danken, dass wir unter zumutbaren umstaenden leben

Aber - danke - dass du diesen Thread wieder ausgegraben hast

Das gibt mir auch die Chance, meinen lange ueberfaelligen dank fuer alle Kommentare - und vor allem für die Feder zu sagen *anbet*
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
... hier ist die chance des ueberlebens groesser ...

Körperlich vielleicht ja, seelisch wohl kaum.

Bleibt die Frage, ob es wirklich besser ist, emotional tot zu sein und dabei körperlich zu überleben, also innerlich längst gestorben zu sein und damit weiterleben zu müssen ...

(Der Antaghar)
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