Depression
für H.Unbeweglich sitzt er in seinem Wohnzimmer. Es ist kalt geworden, doch er steht nicht auf, um die Heizung anzumachen. Es ist dunkel geworden, aber er steht auch nicht auf, um Licht anzumachen. Das Telefon neben ihm klingelt, aber er hört es nicht. Er sitzt einfach nur da und lässt die Zeit verstreichen. Langsam zerrinnt der Tag und noch langsamer die Nacht. Man möchte ihn am liebsten schütteln und vielleicht auch anschreien, damit er wach wird und aufhört, nichts zu tun. Aber wer schreit schon einen Mann an, der in tiefster Trauer versunken ist? Wer schreit schon einen Mann an, der seiner Frau in den Tod folgen möchte und es in seiner Lethargie nur noch nicht umsetzen kann? Nichts erreicht diesen Mann und würde ihn etwas erreichen, gäbe es ihm womöglich nur diesen kleinen fehlenden Energieschub, der nötig wäre, um sich das Leben nehmen zu können. Also lassen wir ihn in seinem dunklen Wohnzimmer sitzen und schauen uns um. Die Handschrift seiner Frau ist noch zu spüren. Freundliche Blumen auf den Vorhängen vor den Fenstern, kleine bunte Tischsets zusammengerollt in der Vitrine, direkt daneben die inzwischen vertrockneten Pflanzen, die nach ihrem Tod keine Chance hatten und jetzt groteske Verrenkungen ihrer Äste und Zweige zeigen. Vor ihm auf dem staubig gewordenen Tisch stapeln sich Papiere, die er bearbeiten müsste. Versicherungen, die das Ausfüllen von Unterlagen anmahnen. Freunde, die ihn zu irgendwelchen Feiern einladen. Zwischen all dem schimmert das Tagebuch seiner Frau in der Dunkelheit des Abends. Tatsächlich kommt eine kleine Aktivität in ihn und er nimmt das Büchlein in seine Hand. Hält es in den schwachen Lichtschein, der sich von der Straßenlaterne in sein Wohnzimmer schmuggelt. Er will ihre Zeilen lesen und schlägt das unscheinbare Taschenbuch mit dem dezenten Blumenmuster auf. Noch immer hat er ein schlechtes Gewissen, wenn er einfach die Zeilen liest, die sie ihrem Tagebuch anvertraut hat. Noch immer zerbricht noch mehr in ihm, wenn er von ihrer Liebe zu ihm liest. Dann die leere Seite. Nach ihr blättert er nicht noch einmal weiter, denn er weiß inzwischen, dass dort die Notizen beginnen, die mit ihrem Tod enden. Ihre Worte bis dahin sind feingliedrig und warm geschrieben. Sie gaukeln ihm vor, sie sei noch da. Doch umso dunkler wird es in ihm, wenn er aufschaut und begreift, dass er für immer allein in der Wohnung ist. Wie lange sitzt er wohl schon so da? Ohne Perspektive. Selbst ohne jede Hoffnung auf eine Perspektive und ab wann stirbt ein Mensch, wenn er einfach nur irgendwo sitzt und sonst nichts, rein gar nichts anderes mehr macht, als nur noch zu atmen?
„Papa“ ruft das Mädchen. „Papa, wo bist Du?“ Er erschrickt so heftig, dass ihm das Tagebuch aus der Hand fällt. „Marie, ich bin hier“ ruft er flüsternd und versucht, schnell ein Licht anzumachen, damit sie nicht merkt, dass er im Dunklen sitzt. „Ach Papa, sitzt Du schon wieder nur hier im Dunklen rum? Das kann doch so nicht weiter gehen! Wie lange willst Du Dich denn noch so furchtbar gehen lassen?“ Er versucht ein Lächeln, doch es gelingt ihm nicht. „Ist schon gut, Marie. Es geht mir gut. Ich habe nur ein bisschen in Muttis Tagebuch gelesen und darüber die Zeit vergessen.“ „Nein Papa, ich kann mir das nicht mehr länger mit ansehen!“ Besorgt schaut Marie auf ihren Vater. „Ich möchte, dass Du in eine Klinik gehst, damit Dir geholfen wird! BITTE Papa!“ „Ach was“ sagt er. „Es geht mir gut. Ich brauche keine Hilfe. Die können mir sowieso nicht helfen. Nichts bringt mir Deine Mutter zurück.“ Die Tochter nimmt sich fest vor, am kommenden Montag mit ihrem Hausarzt zu sprechen. Es müsste doch möglich sein, ihrem Vater irgendwie zu helfen. „Papa, ich liebe Dich. Bitte vergiss nicht, zu essen. Ich habe Dir etwas in die Küche gestellt, was heute bei uns übrig geblieben ist.“ Er ist erleichtert, dass sie nicht in seinen leeren Kühlschrank geschaut hat. Dann gibt sie ihm noch ein Küsschen und zieht kurz danach die Türe hinter sich zu.
Er wird sich umbringen. Nicht, weil er tot sein möchte. Er möchte nur nicht mehr leben, das ist alles.