Augen auf
Jetzt weiß ich endlich, warum ich fast immer bei Licht schlafe.Weil man im Dunkeln nichts sieht.
Die Erkenntnis hat lange gedauert, aber nur deshalb, weil ich mir diese Frage noch nie gestellt hatte.
Nichts zu sehen ist der absolute Graus. Wenn es richtig dunkel ist, sieht man trotz offener Augen nichts. Das Blinzeln beim Einschlafen ist also absolut unnötig, es bringt null und gar nichts. Augen auf und trotzdem ist es finster. Genauso morgens. Es soll Menschen geben, die ihr Zimmer so verdunkeln, dass sie nicht wissen, ob sie bei Tag oder Nacht aufwachen. Da fragt man sich doch, warum sie überhaupt die Augen öffnen, während sie zum Fenster gehen, um die Rollläden hochzuziehen.
Als Single bleiben mir zum Glück abendliche Streitereien über den Verdunkelungsgrad des Schlafzimmers oder meine Lesegewohnheiten erspart. Es ist schlimm genug, dass mir im Urlaub oder bei sonstigen Gelegenheiten, in denen ich ein Zimmer teilen soll, schon vor dem Schlafengehen Sorgenfalten die Stirn verunzieren.
Da hilft eigentlich nur guter Sex, nach dem ich üblicherweise sofort in komatösen Schlaf falle, aber was, wenn neben mir jemand liegt, mit dem das nicht in Frage kommt oder der Sex nicht gut war?
Ich schließe die Augen höchst ungern. Blinzeln zählt nicht, denn dafür kann man nichts. Wenn der Schlaf seinen Tribut fordert, darf er das gerne tun, aber bis dahin sind meine Augen geöffnet. Meistens lese ich. Bis zu dem Moment, in dem ich nicht bemerke, dass ich nicht mehr lese sondern bereits träume. Der einzige Nachteil ist, dass mir das Buch dabei manchmal auf den Hals fällt und ich wegen akuter Atemnot aufwache oder es mir den Finger so einklemmt, dass der Schmerz mich weckt. Aber das ist selten und wenn es geschieht, lese ich sofort weiter, bis mir die Augen von alleine wieder zufallen. Freiwillig kommt das nicht in Frage.
„Augen zu!“ ist ein Kommando, dem ich schwer folgen kann. Mein Vater hatte viele Sätze in seinem Repertoire, die in mir die Rebellin weckten, aber „Augen zu!“ gefolgt von „Mund auf!“ war einer der schlimmsten davon. Nicht zu sehen, was gleich in den Mund wandern wird, nicht zu wissen, ob die Lippen sich auf Löffel, Gabel oder Finger einstellen sollen, keine Ahnung von Konsistenz oder Geschmack dessen zu haben, womit man sich in den nächsten Sekunden auseinandersetzen muss, ist der absolute Horror. Ein einziger Blick würde unliebsame Überraschungen mildern, würde wappnen sozusagen. Werde ich kauen müssen? Kollidiert da womöglich gleich die neue Leberwurstvariante mit der Praline, die ich vor drei Minuten genossen habe?
Ich nehme mein Leben vor allem mit den Augen wahr. Der Standardsatz, den ich von Zahnärzten höre ist nicht „gleich ist es vorbei“, sondern „machen Sie doch bitte endlich Ihre Augen zu“. Ich hatte in Jugendjahren einen Zahnarzt, der mitten in der Behandlung vor den Spiegel seines Waschbeckens trat und sich rasierte, weil er, wie er mir danach erklärte, sich noch nie so unrasiert gefühlt hätte, wie unter meinem Blick.
Warum sollte jemand freiwillig und grundlos die Augen schließen? Der einzige Grund, der mir einfällt ist der, dass ich mir ganz bewusst eine Erinnerung vor mein inneres Auge holen möchte. Bei diesem Gedanken kam mir heute übrigens die Erkenntnis über meine Einschlafgewohnheiten.
Ich war in Gedanken beim Küssen. Genauer gesagt beim ersten Kuss – nicht dem allerersten, sondern dem jeweils ersten. Fragen Sie mich jetzt bitte nicht, wie mir als glücklichem Single dieser Gedanke in den Kopf kam, es wird schon einen Impuls gegeben haben, aber der soll jetzt nicht das Thema sein.
Mir wurde klar, dass ich jeden – wirklich jeden – dieser Küsse, angefangen beim allerersten (und der war wirklich schrecklich), heranholen kann. Und warum kann ich das? Sie werden es ahnen. Weil ich die Augen dabei offen hatte. Ich sehe mit geschlossenen Augen das Gesicht vor mir, sehe, wie der Blick sich verändert, die Perspektive eine andere wird, je näher er mir kommt und dann schaue ich in meiner Erinnerung zu, wie er die Augen schließt. Selbst Schuld. Vielleicht wird der eine oder andere sich heute gar nicht mehr erinnern wollen an diesen Moment, aber was, wenn er es wollte? Was sieht er? Nichts. Nur Dunkelheit. Eigentlich hätte er auch schlafen können in dieser Minute.
Beim Sex ist es das gleiche. Gibt es etwas genialeres, als sich in den intensivsten Momenten an den Augen des anderen festzusaugen? Diesen Blick aufzunehmen, den man sonst nie zu sehen bekommt? Gut, ich gebe zu, dass mich in diesem Fall ein stummer Partner ebenso verwirrt, aber einen, der die Augen geschlossen hat und der mich nicht anschaut, würde ich am liebsten mit Schwung von der Matratze hebeln. Meine schönsten Erinnerungen sind, von einigen ungewöhnlichen und skurrilen Momenten abgesehen, immer die Blicke, die mir dann in meiner Erinnerung das ganze Geschehen wiedergeben.
Mir wurde heute nicht nur klar, warum ich nicht im Dunkeln schlafe, sondern auch, warum ich ohne Fotografien aus dem Urlaub zurückkomme. Dort, wo alle anderen um mich herum ihre Kameras zücken, stehe ich einfach nur da, staune, glotze und nehme in mich auf.
Während andere ihre Fotoalben bemühen müssen, um sich zu erinnern, reicht es mir, die Augen zu schließen.
Danke fürs Lesen.
Ich gehe jetzt das Licht anlassen.