Keine große Sache
Es gibt viele Dinge, von denen ich erst glaubte, dass sie schwierig, gefährlich oder unangenehm wären, bis ich feststellte, dass ich überlebt habe. Und andere Ereignisse, die ich herbeisehnte, auf die ich mit Spannung wartete, ungeduldig und doch froh, dass es noch nicht so weit war. Um nachher festzustellen, dass das Warten das Beste daran war. Nicht unbedingt immer Vorfreude, aber doch eine aufregende Zeit des Abwartens, Vorbereitens, mit der Erwartung eines großen Finales, das dann nie kam. Als ich die Ausbildung beendete, und mit meinem Diplom in der Tasche das wahre Leben beginnen sollte, war ich überrascht von der Leichtigkeit, mit der dieser wichtige Schritt auf einmal kam, vorbei ging und hinter mir lag. Wahrscheinlich war ich darauf geeicht worden, offensichtlich hatte man mir vorgegaukelt, wie großartig und lebensverändernd dieser Meilenstein sei, bis ich es für selbstverständlich hielt, dass ich danach ein anderer Mensch sein müsste. War ich dann aber doch nicht – ich war dieselbe, es fühlte sich seltsam enttäuschend und leer an. All die Zeit des Wartens und Erwartens erschien mir im Nachhinein lächerlich. Der Schulabschluss war nur ein weiterer Tag in meinem Leben, an dem ich aufstand, mir die Zähne putzte, schöne und weniger schöne Dinge unternahm und dann ins Bett ging. Es war keine große Sache.
Ich dachte, als mir jemand das Herz brach, dass das eine wirklich große Sache sei, eine einmalige Art von Schmerz, der sich niemals wiederholt. Doch dann geschah es wieder. Und wieder. Und ich glaubte, ich würde mich wohl daran gewöhnen müssen, hin und wieder am Boden zerstört zu sein, enttäuscht und verletzt zu werden. Die schmerzhaftesten und die glücklichsten Momente wechseln sich ab und kommen immer wieder zurück. Doch sich gebrochen zu fühlen ist gar nicht so schlecht – denn Zerbrochenes heilt. Und die Bruchstellen sind manchmal das Stärkste an dem, was man mühsam wieder zusammengesetzt hat, und das ist mir lieber, als das unbeschädigte, aber naive Etwas vorher. Liebeskummer ist für mich heute keine große Sache mehr – ich weiß, es wird vorbei gehen.
Ablehnung, persönliche, aber auch von völlig Fremden vorgebrachte, die mir wirklich egal sein sollte, hat mich tage-, selbst wochenlang schlecht fühlen lassen.
Manchmal ärgere ich mich stundenlang über eine Dummheit, und schaffe es nicht, sie genauso als lächerlich zu empfinden und darüber hinwegzugehen, wie ich es tun würde, wenn sie jemand anderem passiert. Wenn ich mir den Mund an zu heißem Kaffee verbrenne. Oder über den einzigen Stein in hundert Meter Umgebung stolpere. Ich schimpfe und fluche über mich selbst, nehme mir vor, dass mir das nie wieder passieren soll und übersehe, dass alle um mich herum längst vergessen haben, was passierte.
Wenn etwas nicht so läuft, wie ich es mir vorgestellt hatte, nur weil eine Webseite zu lange zum Laden braucht, oder mein Bus nicht kommt, fühle ich mich bestraft und unfair behandelt. Wenn ich einen guten Tag habe und über Dinge lachen kann, die nicht perfekt sind, ist das alles keine große Sache. Daraus sollte ich gelernt haben.
Mich von meinem Ehemann zu trennen war ein langwieriger Prozess, nach jahrelangem Abwägen, ob mich diese Verbindung wirklich glücklich macht und ob nicht auch er ohne mich glücklicher wäre. Doch eine gut durchdachte Entscheidung war es am Ende doch nicht, eher eine Kurzschlusshandlung, als das Fass übergelaufen war. Spontan habe ich Konsequenzen gezogen, auf mein Bauchgefühl gehört und meine Koffer gepackt, als es soweit war. Erst hinterher merkte ich, dass es nur das Ende einer schon lang währenden Entwicklung war. Und gar keine so große Sache, wie ich erwartet hatte.
Und trotz allem bin ich hier, einigermaßen intakt, geheilt von allen Wunden der Vergangenheit. Alle Sorgen, die ich jemals hatte, waren größtenteils irrelevant, oder sind es jetzt. Die meisten Ängste waren unbegründet. Mir geht es gut. Alles ist gut.
Wenn das keine große Sache ist, weiß ich nicht, was dann eigentlich wohl eine ist.