Labyrinth
„Was wanderst im Labyrinth umher?Warum suchst du die Gefahr so sehr?
Mädchen, Mädchen geh’ voran
Damit ich dich sehen kann …“
Diese Worte geisterten im Kopf der Forscherin herum. Sie wusste, dass sie nicht allein war, etwas war noch hier in diesem eiskalten Labyrinth, das kälter wurde, je weiter sie vorwärts ging, hinein ins Ungewisse, die Dunkelheit und Kälte des Todes, nicht suchend, aber erwartend. Unbeirrt aber mit wachsender Angst ging Issadarra weiter. Flüstern hörte sie, ein Wiehern und etwas strich ihr über die Wange, das sie zusammenzucken ließ. Die Forscherin tastete nach dem Seil, das um ihre Hüfte geschlungen war und griff fester nach der Rolle, die sie in der Hand hielt. Es war ihre Versicherung, wieder das Licht des Tages und die Luft der Lebenden zu atmen.
„Komm mein Mädchen fein,
komm zu mir herein …
Mädchen, Mädchen geh’ voran,
damit ich dich sehen kann …“
Wieder dieses Lied in ihrem Kopf, das sie antrieb. Eine sanfte Männerstimme, die sie zog und schob. Schritt für Schritt, weiter, weiter, immer weiter ging sie, wohl wissend, nichts anderes als ihr eigenes Verderben zu finden.
Langsamer wurden Issadarras Schritte, doch nie hielt sie an, selbst dann nicht, als das Seil sein Ende erreicht hatte. Kurzerhand löste sie den Knoten und ließ es fallen. Alle Gedanken an Vorsicht waren der Neugier gewichen. Es war fast ein Zwang, ihre eigene Furcht zu besiegen, den Rufer in der Finsternis zu finden und sich ihm zu stellen.
„Ja, Issadarra, lass alles zurück. Niemand wird dich vermissen“, hörte sie die Stimme nun klarer und deutlicher. Doch noch immer schien sie aus ihr selbst zu kommen und von den Wänden, die sie fühlen konnte, wenn sie die Hände ausstreckte. Mit tastenden Schritten ging sie weiter. Der Gang wurde enger, niedriger, bis sie schließlich auf allen Vieren dahin kroch. „Wer bist du?“, wagte sie schließlich zu fragen, erwartete aber keine Antwort. Als sie dann doch kam und zwar direkt vor ihr aus einer Höhe, die sie aufsehen ließ, obwohl sie in dieser absoluten Finsternis nichts sehen konnte, erschrak sie zutiefst und hielt das erste Mal an. „K’yrash“, mehr sagte er nicht. Sie wiederholte ihre Frage und versuchte dabei die Dunkelheit mit ihren Augen zu durchdringen. „Deine Neugier, Mädchen … dein Wissensdurst … du hast gefunden, was nur wenigen geglückt ist. Die meisten habe ich schon viel früher gefressen“, stellte er nüchtern fest. Seine Stimme klang angenehm, nicht anders als würde ein Bauer davon reden, ein Schwein zu schlachten, damit er nicht verhungern musste. Issadarra schwieg während die Beklemmung immer mehr in ihr wuchs. „Steh auf Issadarra und folge mir“, sagte er etwas später. „Aber ich kann nicht“, flüsterte sie zur Antwort und machte sich klein. „Doch, du kannst. Steh auf und folge mir. Vertrauen, Issadarra, vertrauen solltest du. Die Frage ist nur, wem.“ Er lachte leise und gehässig. Die Forscherin erhob sich langsam und vorsichtig, immer von der Angst gepeinigt, sich den Kopf am Stein anzuschlagen, doch da war nichts. Als sie die Hände ausstreckte, konnte sie auch keine Wände mehr erfühlen. „Wo bin ich?“, fragte sie erneut mit zittriger Stimme. „In meinem Haus, kleines Menschenkind. In meinem Haus“, stellte er fest. Er klang dabei so jovial wie ein Hausierer, der einem billigen Tand zu überhöhten Preisen andrehen wollte. Sie erhob sich und ging der Stimme hinterher.
„Mädchen, Mädchen folge mir,
lass fallen jede Zier …“
Jetzt wusste sie, dass er es war, der in ihrem Kopf gesungen hatte. „K’yrash, du bist der Teufel, nicht wahr?“, wagte sie eine erneute Frage auf die sie Gelächter erntete. Erst nach einer Weile bekam sie auf ihre Frage eine Antwort aber anders als sie es sich jemals erträumt hätte oder befürchtet. Helles Licht brandete auf und ließ sie die Augen zusammenkneifen. Sterne tanzten vor ihren geschlossenen Lidern und es wurde kälter bis sie dachte, zu Eis zu erstarren.
„Mitnichten, Issadarra, mitnichten bin ich so eine gewichtige Persönlichkeit.“ Wieder diese joviale Tonlage als würde er ihr Tee und Kekse anbieten. „Was bist du dann?“, wiederholte sie ihre Frage von vorhin. „Wer ich bin willst du wissen, Kindchen? Frage dich zuerst, wer du bist, dann wirst du die Antwort von allein finden.“
(c) Herta 11/2012