Fernwehbeziehung
Heute war ein guter Tag. Nicht, dass etwas Besonderes passiert wäre, aber Vera fühlte sich fit und war einfach „gut drauf“. Wie abhängig man doch von diesen Stimmungen war, die man so wenig unter Kontrolle hatte, dachte sie heute und an anderen Tagen. Sie hatte in der Raucherecke locker und witzig mit den Kollegen quatschen können, sogar einen Witz erzählt, über den alle lachten. Hinterher schlug ihr ein Lagermitarbeiter in der Kantine auf die Schulter mit dem Kompliment, dass er den unbedingt behalten und weiter erzählen müsste.
Eine Kleinigkeit, aber eine, die Vera zum Grinsen brachte. Den ganzen Tag schienen ihre Mundwinkel nach oben zu tendieren und fand sie ein nettes Wort für jeden – sogar die sonst unausstehliche Empfangsdame.
Sie fühlte sich auch gutaussehend. Die hohen Schuhe ließen ihre Beine zur Geltung kommen. Als sie über den Gang lief, war ihr bewusst, dass man ihr hinterher sah und sie schämte sich nicht, ihre Hüften schwingen zu lassen – was man ihr schon als übertrieben vorgeworfen hatte, aber sie hatte nun mal ausladende Rundungen und einen weiblichen Gang. An schlechten Tagen trug sie lange Oberteile und machte kleinere Schritte…
Ein bestimmter Hormonspiegel, kleine Erfolgserlebnisse wie ein Danke vom Chef, alles kam heute zusammen und machte, dass sie sich beschwingt und jung und zu allem bereit fühlte. Warum konnte es nicht öfter so sein? Und warum musste es gerade heute ein Tag sein, an dem sie Arno nicht sehen würde? Als Arno voriges Wochenende bei ihr zu Besuch war, fühlte sie sich müde und gereizt, setzte ihm zuliebe ein hübsches Lächeln auf, aber er merkte natürlich, dass es nicht echt war.
Er hatte immer Verständnis und sie machten sich einfach einen gemütlichen Abend und gingen früh schlafen. Sie lagen zusammengekuschelt da und redeten noch, und es war schön, aber als er am nächsten Tag gehen musste, ärgerte sie sich darüber, dass es ihm zu langweilig vorkommen könnte, dass sein Besuch nichts Besonderes gewesen sei, dass er ihre Müdigkeit hatte ertragen müssen. Er wollte davon nichts hören, für ihn war die Zeit mit ihr immer gut, immer positiv und er fand es normal, dass man nicht auf Knopfdruck fit und perfekt sein könnte – wäre er ja schließlich auch nicht.
Im Grunde ärgerte sie sich vor allem darüber, dass es nicht zum Sex gekommen war. Sie war nicht in der Stimmung gewesen und er warf es ihr nicht vor, aber verdammt noch mal. Die Zeit, die sie miteinander hatten war immer so begrenzt, viel zu kurz um sich gehen zu lassen. Warum konnten sie es sich nicht aussuchen und sich immer nur dann sehen, wenn es ihr so gut ging wie heute? Wo sie an kaum was anderes denken konnte, als diese ganze positive Energie dahin zu stecken, wo für sie beide etwas Großartiges dabei herausspringen würde?
Zuhause zog Vera sich etwas Gemütliches an, schenkte sich ein Glas Wein ein und aß etwas Leichtes. Nach 9 Uhr würde sie dann mit Arno telefonieren. Sie wollte ihm erzählen, was für ein toller Tag heute gewesen war, wie sie dieses Problem mit den ausstehenden Mails gelöst hatte und wie positiv man auf ihren Vorschlag reagiert hatte.
Sie würde auch sagen, dass sie ihn vermisste. Aber nur kurz, wie immer, nicht nörgelnd.
Vera wusste, dass sie beide keine Wahl hatten – sie träumten manchmal davon, wie es sei, zusammenzuziehen, machten Witze darüber, ob sie es denn wohl miteinander aushalten würden. Darum betonten sie auch immer wieder gegenseitig, welche Vorteile es hatte, dass sie sich nur ab und zu sahen. Unabhängigkeit, in Jogginghosen herumlaufen und faulenzen zu können, TV und Filme immer selbst bestimmen, essen wann und was man will. Sie wohnten nun mal zu weit voneinander entfernt. Er hatte seinen Job dort, sie war froh eine interessante Arbeit mit guten Konditionen hier zu haben und wenn man sich umsah, waren die Alternativen mäßig bis schlecht in seiner oder ihrer Umgebung.
Sie durfte ihm kein schlechtes Gewissen einreden, in dem sie ihm am Telefon vorjammerte, wie gerne sie ihn jetzt bei sich hätte. Manchmal artete es in eine Art von Sex aus – sie malten sich gegenseitig aus, was sie tun würden, wie sie dem anderen begegnen, ihn anfassen, was sie mit ihm anstellen würden. Doch der Nachgeschmack war bitter und die Vornehmen, die überschäumenden Fantasien beim nächsten Treffen in die Tat umzusetzen, waren bisher immer gescheitert – weil man an den spärlichen Tagen nun mal nicht in der Stimmung war – die konnte man nicht herbeiwünschen.
Und überhaupt, sie waren beide realistisch und verständnisvoll genug, dies einzusehen. Zu fantastischen anderen Aktivitäten kam es dennoch oft genug – darum liebte sie ihn ja auch. Er war ihr Freund und Partner, ihr „Seelenverwandter“ und ein wahnsinnig guter Liebhaber. Sie fühlte auch nach Jahren dieser Fernbeziehung noch echte Verliebtheit ab und zu. Es konnte passieren, dass sie tagsüber auf der Arbeit plötzlich an etwas denken musste, das er getan oder gesagt hatte und dann lächelte sie, oder wurde feucht.
Würde es so bleiben, wenn sie sich jeden Tag sehen könnten? Wenn sie jede Nacht gemeinsam in ihr Bett steigen würden, jeden Morgen zusammen aufwachten? Zusammen den Alltag meistern, einkaufen und saubermachen, waschen und Post erledigen? Vielleicht würde es auch grandios in die Hose gehen. Wäre ja möglich, dass sie doch noch andere Seiten am Anderen entdecken würden, die gar nicht gefielen. Oder?
Solange keine realistische Möglichkeit bestand, sollten sie gar nicht erst darüber nachdenken. Aber das fiel Vera schwer. Besonders heute. Jetzt sah sie gut aus, ihre Haare rochen gut, sie hatte sich gestern rasiert – was sie nicht jeden Tag tat, das war ja eigentlich nur vor Arnos Besuchen wirklich nötig – und vor allem fühlte sie sich spritzig, schlagfertig, charmant, sie hatte Lust zu flirten und in den Augen ihres Gegenübers zu erkennen, wie sie gefiel.
Aber er wohnte zwei Autostunden entfernt, beide mussten morgen wieder arbeiten und viel Zeit hätten sie ja nicht miteinander, wenn er tatsächlich jetzt ins Auto springen würde. Schade.
Sehr schade, dass man dieses Gefühl, diese Leichtigkeit des Seins, die sie heute empfand, diese Lust auf ihn, nicht einfach in Flaschen füllen, konservieren und unter Verschluss halten könnte, bis sie ihn wiedersah. Für alle anderen war es Verschwendung. Und Vera wurde traurig, der gute Tag war vorbei und wandelte sich in einen bittersüßen Abend, als ihr klar wurde, dass sie es nicht aufheben, nicht verschieben konnte.
Wenn sie ihn wiedersehen würde, wäre sie vielleicht gut drauf, vielleicht auch nicht, vielleicht fit und begeisterungsfähig, vielleicht auch nicht. Sie hätte solche Lust auf ihn, dass sie ihm schon an der Tür um den Hals fallen und ihn mit ihrer Zunge in seinem Mund ins Schlafzimmer ziehen würde. Wahrscheinlich aber eher nicht.
Doch sie würden das Beste daraus machen. Das mussten sie. Und am besten wäre, wenn sie gleich am Telefon sofort erzählen würde, was ihr durch den Kopf ging.
Nicht, weil er heute etwas verpasste. Vielleicht aber auch doch.