inspiration
Es war früher Nachmittag, als der junge Mann vorsichtig durch die angelehnten Terrassentüren spähte und lauschte. Er wollte das Terrain sondieren, sagte er sich, ganz sicher gehen, dass er nicht dem Herrn des Hauses begegnen müsste. Seit Wochen kam er nun jeden Tag für den Klavierunterricht für Clara hierher und er wusste, dass sie gleich herunterkommen und sich an den schwarzen Flügel setzen würde. Sie würde sich freuen, ihn zu sehen und ihn schüchtern anlächeln, bevor sie ihm mit roten Wangen vorspielte, was sie geübt hatte. Er liebte den Moment, wenn sie ihn begrüßte und dann die ganze Stunde lang nicht mehr ins Gesicht zu sehen wagte. Er liebte es, wie sie ganz nah und doch unnahbar neben ihm saß und auf seine Finger blickte, wenn er ein Gespinst aus Tönen wob, um ihr die Schönheit der Kompositionen eines Schumanns oder Debussy näherzubringen versuchte.
Reden taten sie nur über Musik, über die nötige Disziplin, die Bedeutung eines Absatzes. Und doch spürte er, dass sie damit mehr sagten, dass sie im Laufe der Wochen begannen, eine geheime Sprache zu sprechen. Er sehnte sich danach, ihr zu sagen, wie schön er sie fand und durfte es nicht. Doch wenn er nonchalant über die Schönheit der Musik redete, kleidete er es in Worte, die ihr zeigen sollten, dass er nicht von den Tönen sprach. Heute würde er es vielleicht wagen, ihre Hand ein wenig länger festzuhalten, oder seine Schenkel an ihre zu drücken, wenn sie auf der kleinen Bank nebeneinander saßen.
Er hörte nun, wie die Familie im kleinen Salon nebenan vom Essen aufstand und die Dienstboten aufräumten, er vernahm, wie Claras Mutter sich anschickte, in ihre Gemächer zu gehen und wie sie Clara viel Vergnügen beim Klavierunterricht wünschte.
Er zog sich zurück und wartete darauf, ihre Schritte zu vernehmen, ihr Kleid rauschen zu hören, wenn sie sich an den Flügel setzten würde. Sie schwebte so leichtfüßig wie ein Vogel und wenn sie ihre Röcke hob, um sich auf die Bank nieder zu lassen, erinnerte ihn das jedes Mal an einen Pfau, der sein Gefieder schüttelt, bevor er das Rad schlägt.
Sein Herz pochte schnell in seiner Brust, als er aus dem Raum hinter den hohen Glastüren, nur wenige Meter von ihm entfernt, nun die ersten Töne hörte und das Stück erkannte. Er räusperte sich und trat vor die Türen und klopfte an.
Clara eilte an die Tür, die bei dem frühlingshaften Wetter immer angelehnt blieben, um frische Luft aus dem parkähnlichen Garten hinter dem Haus hinein zu lassen. Theodor hatte sich angewöhnt, von dort das Haus zu betreten, um den Mittagsschlaf ihrer Mutter nicht mit Klingeln zu stören. Er war immer pünktlich, sie könnte ihre Uhr nach ihm stellen. Pünktlichkeit war eine Tugend, pflegte ihr Vater zu sagen. Das war aber auch schon das Einzige, das ihm an Theodor positiv aufgefallen war. Ansonsten fand er ihn jung, idealistisch, nicht ambitiös genug – jemand, der sich als Klavierlehrer durchschlug, weil er mit seiner Kunst ansonsten nicht genug zum Leben verdiente, ein brotloser Künstler. Clara gab es jedes Mal einen Stich im Herzen, wenn ihr Vater oder sonst jemand negativ über Theodor sprach.
Sie fand ihn großartig. Er war so talentiert, so einfühlsam, er benahm sich immer tadellos und sie liebte es, wenn er ihr etwas vorspielte. Den verträumten Ausdruck auf seinem Gesicht, wenn er die Musik zum Leben erweckte und diese wundervollen Melodien aus dem alten Flügel zauberte, könnte sie stundenlang betrachten. Sie vergötterte ihn, sie fühlte zum ersten Mal all die Dinge, die in den Romanen beschrieben waren, die sie unter ihrem Bett versteckte. Clara bewahrte die Blume, die er ihr vor einer Woche geschenkt hatte, in ihrer Nachttischschublade auf, holte sie abends hervor und ersann liebevolle Worte, die sie ihm ins Ohr flüstern wollte. Doch er durfte von ihrer Schwärmerei nichts wissen. Er war doch viel älter und besonnener und würde sie nur auslachen.
Clara öffnete die Türen und ließ Theodor eintreten, reichte ihm freudestrahlend die Hand und wurde rot, als er einen gehauchten Kuss darauf imitierte. Dann eilte sie schnell ans Klavier und nahm auf der Bank Platz.
„Darf ich mich nach Ihrem Befinden erkundigen, gnädiges Fräulein? Ich hoffe, Ihre Tagesform entspricht dem Pensum, das wir uns für heute vorgenommen haben.“
„Mir geht es ausgezeichnet, mein lieber Theodor. Und wir hatten uns doch darauf geeinigt, dass Sie mich Clara nennen!“
„Richtig, Clara. Möchten Sie mir vorspielen, was Sie geübt haben? Ich möchte mich vergewissern, an welchem Teil wir noch arbeiten müssen.“
Ohne Antwort zu geben, begann sie gewissenhaft das erste Stück zu spielen, das sie für ein kleines Konzert im Familienkreis nächsten Samstag einstudierten. Lächelnd betrachtete er ihre auf die Noten gehefteten Augen, den geraden Rücken und die kleinen Hände, die erstaunlich leicht und rasch über die Tasten glitten – mit genau dem richtigen Rhythmus, und einem feinen Gespür dafür, wo sie die Lautstärke verändern musste. Er war zufrieden mit seiner Schülerin.
Hinter ihr stehend und mit den Fingern dirigierend, sah er auf sie herunter. Er sah kleine Löckchen, die sich aus ihrem Haarknoten gelöst hatten, auf ihrem Nacken hüpfen, sein Blick ging von den glitzernden Ohrringen zu den schmalen Schultern, verfolgte das Muskelspiel in ihren Armen, die Geschmeidigkeit ihrer Finger und blieb hängen an den frivolen kleinen Schleifchen an ihrem Ausschnitt.
Abrupt stand er gerader, schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Gehörte. Doch die Gedanken, die Bilder schienen gegen seinen Willen in seinen Kopf zu kriechen, unsittliche Bilder ihres wogenden Busens, ihrer zarten Haut. Unzüchtige Gedanken, wie sie dort wohl riechen, wie es sich wohl anfühlen würde, sie dort anzufassen, wie es wäre, wenn sein Kopf auf ihrem Dekolletee ruhte, ob er ihr Herz schlagen hören könne.
Er stoppte ihre Hand mitten in einem Tremolo, schalt sie der Ungeduld und sah nicht ihren verwirrten Blick. Grober, als sie es je erlebt hatte, schob er sie zur Seite und spielte die Passage vor, bat sie mit knappen Worten, es noch mal zu spielen, während er den Takt auf das Holz vor ihm schlug. Er hatte sich vorgebeugt, und war ihr so nahe wie selten zuvor. Als er den Kopf drehte, um zu sehen, ob sie verstand, berührten sich ihre Nasenspitzen, und er spürte ihren Seufzer auf seiner Haut. Sie sahen sich in die Augen und beide verloren für einen Moment das Gefühl dafür, wo sie waren, wer sie waren, was sie taten.
„Clara!“, hörten sie plötzlich eine Stimme hinter ihnen. Sie fiel beinahe von der Bank, während Theodor sich aufrichtete und unnütz an seiner Krawatte zerrte. Ihr Vater stand an der Tür und schlug die Zeitung, die er in der Hand hielt, in die geöffnete Linke.
„Schön weiter üben, hörst du? Für das Konzert. Doch für mich hört es sich so an, als hättest du wohl erst mal keinen Unterricht mehr nötig. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, machte Claras Vater auf dem Absatz kehrt. Theodor bekam seinen ausstehenden Lohn von einem Diener überreicht mit der Bitte, nicht wieder zu kommen, als er die Stunde beendet hatte. Clara, mit roten Wangen und Tränen in den Augen, hatte versucht, mit ihm zu reden, doch ihr Vater hatte seine Entscheidung getroffen. Sie weinte in ihrem Zimmer und zog die Blume hervor, benetzte sie mit ihren Tränen und schrieb in ihr Tagebuch, dass sie nie wieder so lieben würde, wie sie diesen jungen Klavierlehrer geliebt hatte, den sie nie wieder sah. Nur wenige Jahre später verliebte sie sich in einen anderen Musiker, ihr Leben lang wurde ihr Herz berührt von der Musik und den Musikschaffenden, nur sie vermochten es, Licht in die Finsternis zu bringen, die ihr so braves und vorbestimmtes Leben ihre bereitete.
Und sie komponierte selbst – mit den Worten Theodors im Ohr: „Clara, ihr seid so talentiert, wie ihr schön seid. Beides soll man pflegen und sich daran erfreuen. Lasst nicht ungenutzt, was ihr könnt, betont es, wie euer Äußeres, damit andere den Anblick genießen können.“ Sie fand den Mut und die Inspiration, die ihr für ihre Werke nicht einhelliges, doch über Jahre hinweg stetiges Lob brachten, und dankte dem kleinen Klavierlehrer ewig dafür.