Rhabarber
Rhabia's Bruder Rhabarber kann stundenlang sinnlose Phrasen aneinanderhängen. Doch daher hat dieses pfiffige Früchtchen den Spitznamen nicht.
Oder doch wieder. Rhein Hunsrück Anzeiger und Barbier, die Bestandteile, aus denen sich Rhabarber ergibt, erhellen nur für Eingeweihte die Bedeutung und die Erinnerung an die speziellen namensgebenden Ereignisse lässt sie eventuell selbst noch im nächsten Leben breitgrinsend in U-Bahnen und Wartezimmern sitzen.
Oder während der Tanzstunde ihrer Tanzpartnerin auf die voluminösen Brüste glotzen und unvermittelt loslachen.
Soll ich noch ein paar Situationen schildern?
Nein? Sie wollen endlich wissen, warum Kalle, Lysiras Ex und Rhabias Bruder Rhabarber heisst?
Nun gut, auch wenn ich es geniesse, meine Leser auf die Folter zu spannen, und beim Sujet meiner Betrachtung eine ausgedehnte Art der Umschreibung von nichtigen Details durchaus angebracht wären, lasse ich Gnade vor Recht ergehen und komme im Folgenden direkt zur Sache.
Oder fast.
Denn ganz komme ich nicht umhin, die besonderen Umstände zu berücksichtigen, die zu der namensgebenden Situation führten, wegendessen Kalle sich heute fast nicht mehr an seinen originären Namen erinnert.
Höchstens er findet in einem Umzugskarton zufällig seine Geburtsurkunde, was jedoch für jeden, der einmal bei ihm zu Besuch war, unwahrscheinlicher erscheint als eine Bofrostpackung in einem Iglu am Nordpol.
Nun denn, das kam so: Kalle war schon immer neben seinem immer geschäftigen Mundwerk mit einer überaus reichen Phantasie gesegnet. Reich nicht nur im ursprünglichen, sozusagen musischen Sinne, sondern auch wortwörtlich, denn er fand auch immer wieder verblüffend gewinnträchtige Anwendungsmöglichkeiten.
Insbesondes im süssen Wahne des Verliebtseins liess er sich nicht nur von der momentan Angebeteten küssen, sondern schwelgte auch sondergleichen in Musenküssen, dass es Allen, denen er zu diesen Zeiten begegnete, schwindelig werden konnte. Sozusagen liebestaumelig. Als begnadeter, erschreckend charmanter Tangotänzer fehlte es ihm in Frauendingen auch nie an Musen und Schmusegelegenheiten.
So begab es sich also, dass ihm eines Tages auf dem Heimweg von der wöchentlichen Tanzstunde, die er mit Bridget, einer zwar grenzdebilen, doch oberweitenüppigst gesegneten Brünetten absolviert hatte, eine seiner grandiosen Ideen überfiel. Immer noch die wippenden Ballons vor Augen, die in ihrem Kosett so eingeschnürt waren, dass es schien, sie wollten aus ihrem Gefängnis nach oben ausbrechen, um wie zwei Heissluftballons in den siebenten Tangohimmel zu entschweben, begann er plötzlich mitten auf der Chaussee im Kreise herumzuhüpfen, die Arme halbkugelförmig nach oben gereckt und La Paloma zu pfeifen. Zum Glück war es schon so spät, dass die anständigen Bürger der Stadt hinter verschlossenen Fensterläden an ihren Öfchen saßen und nur verwegene Gestalten und Nachtschwärmer unterwegs waren. So erkannte ihn keiner und jene, welche sein seltsames Gebaren sahen, schrieben es dem vermeintlichen Alkoholgenuss eines Trunkenboldes zu, wie sie zu noch späterer Stunde nicht selten in den Rinnsteinen der Stadt anzutreffen sind.
Schon zwei Wochen später starteten an einem sonnigen Sonntagnachmittag auf der Wiese vor der Stadt zwei kunstvoll miteinander verknüpfte Heissluftballos mit Kalle, mehreren haarschneidewilligen Freunden und Stammkunden seines Friseurladens und ebendies zwei Redakteuren des Rhein Hundsrück Anzeigers, die das Spektakel am folgenden Morgen auf der Titelseite mit Schrift und Bild dokumentieren sollten. Nicht zu vergessen ein Ballonführer, dessen Lohn an diesem Tag sein kostenloser Haar- und Bartschnitt werden sollte. Ein Korb des Doppelballons diente als Wartezimmer und der andere, in dessen Mitte der Barbierstuhl aufs sorgfältigste festgeschraubt stand, sollte dem Kunden den aufregendsten Friseurbesuch seines Lebens bescheren. So weit, so gut.
Somit wären die einzelnen Teile Kalles zukünftigen Spitznamens eigentlich schon geklärt. RHA - die Zeitung und Barber - der Friseur.
Die Bedeutung des Wörtleins eigentlich ist hiermit jedoch noch nicht geklärt.
Eigentlich lief alles nach Plan. Das Wetter spielte mit und kein Wölkchen trübte den blauen Sommerhimmel, der Wind hielt sich dezent zurück und kühlte lediglich in angenehmem Maße. Zum Start erschien die halbe Stadt und diskutierte lebhaft über den verrückten Einfall und die eindeutig zweideutige Gestaltung des Flugobjektes. Die Frauen fanden die Brüste eher geschmacklos und der geknüpfte Büstenhalter war ihnen zu knapp geraten. Die Männer hingegen zeigten sich ausnahmslos begeistert; zumindest wenn ihre Frauen und die Kinder nicht in unmittelbarer Nähe standen. Es war abzusehen, dass nach der erfolgreichen Jungfernfahrt, an Folgeflügen kein Mangel herrschen sollte.
Eigentlich.
Denn ausgerechnet beim letzten Haarschnitt, bei dem der Ballonführer auf dem Stuhl saß, passierte das Malheur. Im langsamen Sinkflug näherten sie sich dem Landeplatz. Der etwas auffrischende Wind blies die nun kleinere Flamme aus und das Gefährt sank etwas schneller als beabsichtigt. So kam es, wie es kommen musste.
Kalles Korb blieb an einem Gebüsch auf der Kuppe des Grenzwalles hängen. Bei dem Ruck wurde Kalle, der gerade fertig geworden dem Ballonführer den Spiegel vorhielt und dafür am Rand des Korbes stand, über den Rand gelupft. Er hatte sich zwar nicht verletzt, da er nur etwa eineinhalb Meter tief gefallen war, doch er lag wie ein Käfer auf dem Rücken mitten in einer riesigen Rhabarberstaude.
Welch Motiv am nächsten Morgen das Photo auf der Titelseite hatte, brauch ich wohl nicht mehr erwähnen.
Und auch die Unvermeidlichkeit gerade dieses Spitznamens scheint mir damit hinreichend ersichtlich.
Zu berichten bleibt mir nur noch, dass ab diesem Tage Kalles Salon nie wieder über leere Wartestühle zu klagen hatte. Auch ohne Ballonfahrten.
Verwunderlich ist allerdings, dass es weniger die Männer, sondern überwiegend Frauen sind, die seine Dienste in Anspruch nehmen. Vielleicht weil die Männer keine Ballons haben, die sie in Rhabarbers Blickfeld schweben lassen können?