Wie ich Max getötet habe
Als ich Max das erste Mal traf, war er Schüler. Mittelgroß, mittelschwer, mittelintelligent. Er war weder hübsch noch hässlich, er war weder charismatisch noch unauffällig. Das absolute Mittelmaß. Er hatte erstaunliche Eigenschaften, der Max. Ein unglaubliches Phänomen, denn Max war unsichtbar, unhörbar und auch sonst war er „un“. Er fiel niemals durch Geruch auf, weder durch betörenden noch müffeligen. Er redete… wohl. Ganz bestimmt sogar. Aber was er sagte, interessierte kein Schwein. Wenn er ging, hörte man ihn nicht, wenn er redete, sagte er nichts, wenn er da war, sah man ihn nicht und wenn er weg war, vermisste man ihn nicht. Eigentlich müsste man konstatieren, dass Max einem Gespenst gleich kam.
Somit war Max das präzise Gegenteil von mir. Ich war laut, ich war präsent und selbst wenn ich schweigend in der Ecke stand (was oft vorkam, besonders bei Frau Werner im Deutschunterricht), spürte jeder: Gleich knallts. Ich war eine vollgetankte Selbstmordmaschine und der Hebel stand bei mir ständig auf der Kippe.
Nun, Max und ich gingen uns aus dem Weg. Beziehungsweise habe ich ihn nie wirklich gesehen, weil er ja so gut wie unsichtbar war. Ein paradies-ischer Koalitionsvertrag zum Wohl der Kameraden.
Wir verloren uns aus den Augen. Good bye, Max. Good bye, wer?
25 Jahre später bei einem Klassentreffen.
Als ich die Kneipe betrat, wollte ich spontan ein Kruzifix aus der Tasche zerren. Wenn ich noch niemals eine Vision des Pandämoniums hatte, hier offenbarte sich die hässliche Fratze der unchristlichen Zeit. Die Zeit, in der wir verbrennen.
Ich sah tiefe Furchen. Ich sah graue Haare, ich sah gebrochene, tote Zombie- Augen. Ich sah Klamotten aus der Altkleiderkiste der Theater- AG, und die Krönung des Ganzen war Hartmut, der ein Blau- rotes Holzfällerhemd zu seiner Jeans trug, das er mit einem sehr schmalen, seit Jahrzehnten aus der Mode gekommenen Lederschlips zierte. Da die meisten Männer leider der Kunst des Krawatten- oder Fliege- Bindens nicht mehr mächtig sind, hatte Hartmut einen doppelten Windsor gebunden. Unfassbar. Aber Hartmut war schon immer ein wenig….
Das erkannte man auch hier, weil sein schwarzer Lederschlips neben dem Rindersteak dekorativ in der Sauce schwamm.
Marion. Mein Gott… einst die Hübscheste in der Klasse und es gab wohl niemanden, der nicht einiges für ihre Gunst getan hätte, mich eingeschlossen. Aber hier saß sie wie Königin Pimpernella die Großzügige inmitten ihres skurrilen Hofstaates und rezitierte den auswendig gelernten Text ihres Gatten, wie toll doch ihr Leben sei. Das alles in Leoparden- Leggins, einer halbtransparenten Wickelbluse und einem Gesicht, das dermaßen überschminkt war, dass ich dachte, ihre Augenhöhlen wären klingonische Torpedoschächte. Meine Güte, Smokey- Eyes ja, aber nicht so.
Ich erfuhr, dass „meine“ Mädchen tot waren. Kerstin an einer Überdosis und Ute ist in den Armen von Prinz Bacchus jämmerlich verreckt. Der Rest der Gesellschaft hat sich weiblicherseits zum blondieren verschworen, die männliche Klientel übte sich im Wettfressen.
Nur einer stand abseits. So gut wie unsichtbar. Lappalien- Max natürlich.
Ich hätte ihn kaum wiedererkannt. Er war immer noch schmal. Jedenfalls fehlte in meinem Datei – und Ablagesystem der entsprechende Eintrag für dick oder dünn. Er stand nahe den Toiletten und starrte auf seinen Laptop, uns allen den Rücken zugewandt. Ich sah ihm über die Schultern und erstarrte. Der Depp sah sich Werbung an! Unerhört.
Ich sah einen Vollidioten, der mit scheinbar magischen Gesten eine Schranke anhob. Dann wechselte das Bild und derselbe Anwärter auf einen Hirnschrittmacher öffnete mit derselben schwulen Theatralik eine automatische Schiebetür. Er hob telekinetisch das Wasser aus einem Brunnen, schlug das Cabrio- Verdeck auf, ohne es zu berühren (wie unachtsam vom Regisseur! Die Hand der Beifahrerin am Schalter ist wirklich dämlich), er schoß eine rote Ampel solange tot, bis sie grün wurde und noch viele dumme Dinge mehr.
Ich brach spontan in heulendes Gelächter aus. Und steigerte mich in einen Lachflash. So ein hirnrissiges Stück Werbung hatte ich ja noch nie gesehen!
Max drehte sich um und… war der Typ aus der Werbung!
Ich lag am Boden. Krämpfe vor Lachen im Bauch, ich hatte keine Tränen mehr, meine Beine zuckten und ich konnte einfach nicht aufhören. Das ging eine gefühlte Ewigkeit so.
Als ich in der Lage war, mich unter Schmerzen aufzurichten, nahm ich meine Umgebung wieder wahr. Hartmut war der Schlips vollends vor Lachen verrutscht und Fragmente des Rindersteaks zierten sein Gesicht, Marions Schminke tropfte an ihrem aufgedunsenen Gesicht herunter und der Rest des Saales kringelte sich vor Lachen.
Einen Tag später stand im Emsland- Kurier:
Laienschauspieler erhängt sich in Hotelzimmer
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