Erzählcafé
Es ist eigentümlich. Aber immer, wenn man mich nach Ostern fragt, erinnere ich mich an dieses eine Jahr. Ich muss nicht einmal die Augen schließen. Es ist, als hätte es sich eingebrannt in meine Seele für alle Ewigkeit. Vielleicht liegt es daran, dass es so kalt war.
Nein, ich muss anders beginnen. Denn es begann auch anders, damals im Herbst Vierundvierzig. Den ganzen Oktober schien die Sonne und die Menschen jammerten deswegen. Ich weiß nicht, ob es heiß war oder warm oder einfach nur trocken. Ich war zehn Jahre alt und immer wenn die Glocken läuteten, gingen wir in den Keller. Ich mochte den Keller nicht. Er roch so muffig, nach Generationen von alten Kartoffeln, nach Angstschweiß und Geilheit. Damals hätte ich diesen Geruch natürlich nicht so beschreiben können. Wir lernten solche Worte nicht. Aber ich sehe Großmutter noch vor mir, bepackt mit ihren Habseligkeiten, fünf Röcke übereinander trotz der Wärme, uns Kinder umarmend, uns festhaltend bis zur Bewegungslosigkeit. Und ich sehe Karl und Paul und Hubert, wie sie die Polenmädchen nach hinten zerren. Merkwürdige Geräusche. Je lauter sie wurden, desto fester wurden wir gepackt. Großmutters Röcke rochen nach Mottenkugeln und Zwiebeln, nach Erde und Arbeit. Sie duckte sich nicht. Sie saß aufrecht auf einem Stapel leerer Säcke und hielt uns schweigend fest. Irgendwann schwiegen die Glocken. Irgendwann schlugen sie auf diese andere Art, die uns gebot, den Keller wieder zu verlassen.
Ich war zehn Jahre alt und zuständig für die Kaninchen. Ich hatte meine Sichel und schnitt ihnen das Futter, säuberte ihren Stall und sorgte für frisches Wasser. „Gib ihnen keine Namen“, hatte Großvater mir gesagt, „das macht es nur schwerer.“ Ich verstand ihn nicht, aber ich gehorchte, denn ich wollte keinen Satz heiße Ohren. In jenem Oktober verdorrte das Gras und ich musste weit gehen, um noch Grünes im Schatten zu finden. Und so war ich am Waldrand, als die Glocken läuteten. Ich hörte sie kaum. Riefen sie in den Keller oder wieder hinaus? Ich wusste es nicht. Etwas hielt mich davon ab, ihnen zu folgen. Ich ging hinein in den Wald.
Pfeifen, schrilles Pfeifen, dazu dieses Knattern. Feuerpfeile. Ich laufe, die Sichel fest umklammert, immer tiefer in den Wald, dorthin, wo die Hünensteine stehen. Mein Atem jagt, mein Herz schlägt bis zum Hals, ich renne, renne, renne. Stolpere über eine Wurzel, falle, raffe mich auf. Renne, renne, renne. Da ist der, der Hünenstein, ich lasse mich fallen, schmiege mich an ihn. Das Pfeifen hört auf. Es ist still. Eine Maus raschelt durch das trockene Gras und da ist es: Weinen. Leise.
Sie heißt Judith und sie ist kleiner als ich, viel kleiner. Und sie hat Angst. Ich gebe ihr den Apfel, den ich in der Hosentasche habe. Er ist winzig und wurmstichig. Ich schäme mich, aber ich habe nichts anderes. Sie will nicht mit mir gehen. Sie bleibt im Wald. Morgen bringe ich anderes. Ich laufe fort, heim, hole mir heiße Ohren, weil ich nicht im Keller war.
Bitte! Ich wollte ihr etwas bringen! Wirklich! Ich hätte es getan! Aber er ließ mich nicht mehr aus den Augen. Es dauerte vier Tage, bis ich fort konnte. Ich hatte ein Stück Brot für sie und ein hart gekochtes Ei. Ich habe es ihr gebracht! Und sie wollte nicht mit mir ins Dorf! Also hab ich gesagt, „da hinten ist der alte Schafstall. Da geht nie wer hin. Geh da rein in der Nacht.“
Bald setzte das Schneetreiben ein. Bitte, ihr müsst mir glauben! Ich habe ihr gebracht, was ich konnte. Aber ich konnte doch nur hingehen, wenn es schneite. Man hätte doch die Spuren gesehen! Die Kaninchen wurden geschlachtet. Eines nach dem anderen. Ein Fell nahm ich fort und brachte es ihr, für ihre kalten Händchen. Sie war so zart, so gefasst. Wer hätte sie nicht lieben können?
Es wurde Weihnachten und es gab eine gebratene Gans. Ich habe etwas für sie in die Hosentasche gesteckt. Aber ich konnte nicht fort. Die Männer tranken Schnaps und griffen nach den Frauen. Niemand schlief. Erst gegen Morgen schlich ich fort. Sie sitzt im Schafstall, schaut mich aus großen Augen an. Nimmt das Fleisch und beißt ab. Großvater! Nein! Nicht! Mein Kopf fliegt in den Nacken, knallt gegen einen Pfosten. Großmutter! Lauf! Er schlägt dich sonst auch! Knacken! Er nimmt sie, wirft sie weg wie eine Puppe! Kein Grab für Judith! Ich hätte ihr doch Blumen gebracht!
Ostern war es immer noch kalt. Ostern kamen die Amerikaner. Kaugummi und Schokolade. Sie finden den Schnaps und trinken. Dann schlafen sie.
Es ist Ostern fünfundvierzig. Ich bin elf Jahre alt und weiß inzwischen, was eine Waffe ist. Es war Käptn Morgan, der Großvater erschoss. So steht es im Protokoll.
© Sylvie2day, 24.03.2013