Kritik erwünscht
Johnny war im Schwung – er drehte sich um sich selbst vor lauter selbstbezogener Begeisterung, seine Egomanie unternahm Höhenflüge und riss andere mit sich. Wie ein Kreisel zogen die Wellen seiner Rotation seine Mitmenschen in den Bann - seine haarsträubenden Aktionen der Selbstdarstellung konnte man nur bewundern oder hassen. Wo immer der Aktionskünstler des Jahrhunderts auftauchte, waren sein Outfit, seine lautstark geäußerten Meinungen und die idiotischsten Handlungen in aller Munde und am nächsten Tag Schlagzeilen wert. Jamais-vu! skandierten die Tabloids, wenn er in kafkaesker Manier sein Auto in Brand setzte, um gegen Benzinpreise zu demonstrieren, sich kopfüber an eine Straßenlaterne hing, um Bibelverse gegen Götzenanbetung zu zitieren, oder in den Gewölben alter Bunker in Uniform Liebesgedichte vorlas.
Das war alles natürlich Kommerz, ein verzweifelter Versuch, seine ansonsten belanglosen Werke an den Mann zu bringen. Und er war sehr erfolgreich damit. Wenn Kritiker bezweifelten, ob je ein Mensch seinen Bildern oder seiner Poesie einen zweiten Blick gegönnt hätte, wenn er sich nicht so gewinnbringend anderweitig vermarkten würden, ließ er sich nicht anmerken, ob ihm das etwas ausmachte. Die Aktionen selbst waren inzwischen Kunst, er brauchte gar nicht mehr malen oder wirklich arbeiten.
Es gab nur einen Menschen, der wußte, wer hinter dem lebenden Werbeplakat Johnny X. steckte und zu dem dieser sich verkroch, wenn er Trost und Bestätigung suchte, die nicht von oberflächlichen Fans geschrieen wurde. Und der gleichzeitig die Triebfeder des Phänomens Jonny X. war, und es am Leben erhielt – wenn auch ungewollt.
Nada, ein alter Freund, wußte immer die richtigen Worte. Er erschien Johnny wie ein lebendiges Grimoire – voller Sprüche, die man für seine jeweilige Situation deuten und anwenden konnte. Er klaute die meisten für seine angesagten Proklamationen moderner Weisheit, was Nada nichts ausmachte. Sein unerschöpflicher Vorrat an Aphorismen, Redewendungen, Sprichwörtern und Metaphern eignete sich nun mal für Johnnys Selbstdarstellung – da es das Publikum verwirrte und jeder sich fragte, ob vielleicht doch mehr als schöner Schein dahinter steckte.
Die Ambiguität der meisten Aussagen und die Tatsache, dass Johnny in der nächsten Woche genau das Gegenteil sagen konnte, schenkte ihm das langanhaltende Interesse seiner Fangemeinde, die täglich wuchs. Ein Rätsel der Menschheit, ein aufwühlender Beobachter der Zeit, immer mit dem Finger in der Wunde, immer mit dem Blick nach vorn. Er wurde vieles genannt. Und solange er gut davon lebte, tat er, was Nada ihm empfahl und malte oder schrieb nebenbei ein bisschen. Er hatte Geld, Spaß, Freunde, Frauen und Luxus zuhauf. Solange er Nada vertraute, war alles nur bergauf gegangen.
Doch dann kam der Tag, an dem Johnny, verkatert und müde, mal wieder zu Nada kam. Er brauchte ihn nicht um Rat zu fragen, auf direkte Fragen ging Nada doch nie ein. Johnny legte sich zu ihm auf die Couch, fraß seinen Kühlschrank leer und schlief dann aus. Er würde sich ausruhen, bis Nada einen seiner berüchtigten Monologe hielt oder eine Anekdote erzählte, die Johnny auschlachten könnte, dann wäre er wieder weg und könnte ein paar Wochen davon zehren.
Es passierte schneller, als er gehofft hatte. Nada schlürfte in die Küche, als Johnny sich gerade ein Sandwich machte, und murmelte vor sich hin. Johnny stellte schnell sein Handy auf Aufnahme und hielt es ihm vor den Mund, unbemerkt von dem fast blinden Nada. Hinterher musste Johnny sich vier Mal anhören, was Nada vor sich her gebrabbelt hatte, bevor er es verstand, oder zu verstehen glaubte.
Man sieht es nicht, man riecht es nicht, und doch ist es da. Der Mensch hat gelernt, es für sich arbeiten zu lassen, es aus den Tiefen geholt und es für seine Bequemlichkeit in Brauchbares aufgeteilt, platte Definitionen zum wahren Ding erhoben.. Doch damit richtig umzugehen, das hat er nie gelernt. Er benutzt, missbraucht und missversteht es. Er verschenkt es, obwohl es ihm nicht gehört. Er kauft es, obwohl es allen gehört. Und eines Tages überrascht es ihn. Man lebt wie immer, spürt es nicht kommen. Dann kommt die Flamme, die Alleszerstörende, und aus der Asche gebiert der Neuanfang.
Was könnte das bedeuten? Man riecht es nicht, es kommt aus der Tiefe? Was sollte das sein? Dann eine Flamme, überraschend – Aha, dachte Johnny.
Gasbrand! Das mit dem Neuanfang ist gut. Das wird mein nächstes Happening, das ist genial – den Raum voll Gas strömen lassen und plötzlich die Verpuffung, im von mir vorhergesagten Moment, ein Feuerwerk, ein denkwürdiges Spektakel. Und er begann mit der Planung.
Nada sah die Meldung im Fernsehen. Es war alles so gelaufen, wie Johnny es geplant hatte und ein enormer Medienrummel war bereits im Vorfeld gelaufen, weil er es wie immer wirksam angepriesen hatte. Nada schüttelte den Kopf, als er von der Gasexplosion hörte, die neben Johnny selbst auch drei Unschuldige das Leben gekostet hatte. Der von Johnny anläßlich der Aktion vorgetragene Text kam Nada bekannt vor.
„Aber ich hatte doch die Liebe gemeint, ts, ts. Dummer Junge.“