Der Traum
„Ich hatte mal wieder diesen Traum“, berichtete Mia ihrer Therapeutin, Dr. Brunswick am letzten Dienstag.
„Der mit dem Schneetreiben oder der von ihrer Großmutter?“, fragte die Ärztin etwas gelangweilt zurück.
In ihren Augen hatte Mia diese Sitzungen längst nicht mehr nötig, doch sie zahlte gut und wollte sie nun mal nicht so sein. Vor drei Jahren waren diese wöchentlichen Gespräche hilfreich für Mia gewesen, um ihre Trauer nach dem Tod ihres Mannes zu überwinden und damit sie ihren Kindern helfen konnte, diesen Schicksalsschlag zu verarbeiten. Damals war sie gekommen, um zu weinen und hatte lange gebraucht, um einfach drauf los reden zu können. Inzwischen war es zu einer vertrauten Stunde voller Erzählungen aus dem Alltag geworden und war nur noch hier und da mal ein Ratschlag der Ärztin von Nöten.
„Nein, also das heißt, der Grabstein kam darin vor, und es war kalt, aber ansonsten ging es um Ostern.“
„Ach, das ist aber länger her, dass Sie das letzte Mal davon redeten. Wie fühlte es sich denn für Sie an?“
„Natürlich war es die Zeit, in der mein Mann beerdigt wurde. Rund Ostern, mit all den Blumen in der Sonne, den Tulpen auf dem Friedhof, mit den Glocken, die geläutet wurden und all den weinenden Menschen. Aber ich war nicht so traurig wie sonst. Ich sah zu, wie eine Menge Leute hinter dem Sarg her liefen, als er weggetragen wurde, während ich auf der Mauer saß und ich trug dabei Stiefmütterchen in einer orangen Schale auf meinem Schoß. Als all die lieben Menschen weg waren, setzte ich mich auf den Grabstein, den meines Mannes, der aber schon richtig verwittert und begrünt aussah.“
„Das klingt nach einem Abschluss mit den Empfindungen, wegen derer sie damals zu mir kamen. Ich werte das als Erfolg - Sie haben ihre Trauer überwunden, oder?“
„Warten Sie! Es ging ja weiter. Ich beobachtete, wie ein Mann mit einem Holzbein und Piercings im Gesicht auf den Friedhof kam. Er umrundete die Kirche und machte sich hinter einem der Gräber zu schaffen, dem mit dem Riesengedenkstein, der wie ein Reserverad aussieht. Ich wurde neugierig und sprang übermütig von meiner Mauer, um zu sehen, was er tat. Er schaufelte ein Grab und dann nahm er einen großen Kühlschrank aus Stahl, den er scheinbar mit hierhergebracht hatte und legte ihn hinein.“
„Er begrub einen Kühlschrank?“
„Ja. Und ich verstand, dass da wohl sein Bein drin lag. Das gute, weil er ja nur so eine Prothese trug. Er verschloss das Grab wieder, und sah mich. Er lächelte mich an und ich ging zu ihm. Er nahm mich bei der Hand und dann schwammen wir irgendwie, oder schwebten plötzlich in der Luft. `Komm, weg hier, bevor die Bullen kommen`, sagte er zu mir. Wir schwimmen also weg von der Kirche und dem Dorf und über die Wiesen und es geht mir wunderbar. Was halten Sie davon?“
„Nun, das Bein, das begraben wurde, war vielleicht ihre Trauer, die nun zu Ende ist. Ein Neuanfang, das könnte man darin sehen, dass sie sich freuten, von diesem Ort weg zu sein. Was der Mann genau darstellt, ist mir nicht ganz klar. Und warum er einen Teil von sich begrub. Kennen Sie jemanden mit einem Holzbein?“
„Nein. Er sah gut aus, und gefiel mir, aber ich hatte ihn noch nie gesehen. Er machte mir keine Angst. Mir kam die Situation im Traum ganz normal vor, obwohl ich wusste, dass es wohl illegal war, und er vor der Polizei fliehen musste.“
„Ihr Unterbewusstsein hat Ihnen jedenfalls gezeigt, dass Sie diesen Friedhof und den Grabstein ihres Mannes jetzt ganz bewusst und selbst freudig und neugierig auf den Rest der Welt verlassen können. Ich halte das für einen großen Fortschritt.“
„Danke, Frau Dr. Brunswick. So sehe ich das auch. Die Stunde ist um, bis nächsten Dienstag dann.“
Und so hatte Mia letzte Woche die Praxis verlassen. Heute stand sie wieder vor der Tür und diesmal war sie nicht allein.
„Darf ich Ihnen Ralf vorstellen? Meinen Freund..“, sagte Mia etwas verschämt. Frau Dr. Brunswick war überrascht, weil Mia noch nie jemanden mitgebracht hatte. Sie wusste nichts von einem neuen Partner. Und der Mann, den sie vor sich sah, überraschte sie noch mehr. Ein Piercing in der Nase und Tattoos unter dem Ohr fand sie auf den ersten Blick so gar nicht passend zu der eher braven Mia. Doch war ihre Ambiguitätstoleranz stark ausgeprägt, so dass sie nie jemanden rein nach dem Äußerlichen beurteilen würde, so weit hatte Frau Dr. Brunswick sie bereits einschätzen können.
„Ich brauche die Therapie nicht mehr, Frau Doktor. Ich danke Ihnen für Alles, was sie in den vergangenen Jahren für mich getan haben. Aber ich denke, ich schaffe es von jetzt an allein. Oder besser: ich habe jemanden gefunden, der mir helfen wird in Zukunft, “ sagte Mia. Dann beugte sie sich leicht vor und flüsterte der Ärztin ins Ohr: „Er hat sogar Piercings am Schwanz, stellen Sie sich das einmal vor!“ und kicherte. Das wollte sie sich gar nicht vorstellen, dachte Dr. Brunswick und schüttelte sich innerlich, drückte Mia aber freundschaftlich zum Abschied und wünschte ihr viel Glück.
Nach diesen Worten schmiegte sich Mia in die Umarmung des großen Mannes neben ihr, der der Ärztin einen kräftigen Händedruck gab, bevor er – leicht hinkend mit dem linken Fuß – mit Mia aus der Praxis lief.