Lehranstalt
Louisa Bergmann hasste ihre Eltern. Sie hasste diese neue Schule, all die vielen Menschen, von denen ihr Vater behauptet hatte, sie würde schnell Freunde unter ihnen finden. Sie wollte nur so schnell wie möglich wieder weg von hier. Das Internat, in das man sie gesteckt hatte, weil es „gut“ für sie sei, das ihr helfen würde, wieder auf den rechten Pfad zu gelangen, war für sie nur ein Gefängnis, eine Bestrafung und die Hölle auf Erden.
So dachte sie am ersten Tag und noch ungefähr eine Woche lang. Doch es passierten unverhofft fast täglich Dinge, die sie erstaunten und lange konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass im Endeffekt etwas Gutes aus dieser Sache entstehen könnte.
Erst einmal gab es tatsächlich ein paar nette Leute hier, und nicht nur unter den Schülern, auch unter den Meistgehassten, weil wie ihre Eltern salbungsvoll von „warte nur ab“ labernden Erwachsene, den Mitgliedern des Lehrkörpers.
So sehr Louisa sich auch zu Beginn sträubte, sie konnte nicht anders, als vor allem ihren Literaturlehrer zu bewundern. Er war richtig cool. Wusste immer die richtige Antwort auf die flapsigen Frechheiten ihrer unreifen Mitschüler und erntete für seine Entscheidungen, egal ob es um Bestrafung für ungemachte Hausaufgaben oder darum ging, wen er fürs Vorlesen dran nahm, Respekt von allen. Als Herr Großpfennig ihr für ihren Aufsatz über die Aufklärung ein Kompliment machte – vor der ganzen Klasse – wurde sie rot und schwor, ihn nie zu enttäuschen.
Von außen gesehen war das Internat eine hässliche Bettenburg, und längst nicht so romantisch, wie es in Jugendbüchern dargestellt wurde. Kein altes Schloss, keine Parkanlagen mit Riesenbäumen, sondern Architektur aus den 60ziger-Jahren, inklusive Tennisplatz, ein Gebäude, das seit der Generalüberholung eher wie ein billiges Hotel aussah. Die Chaotenabwehranlage (so nannten die Schüler das Überwachungssystem, abgerundet durch hohe Zäune ringsum) ließen es sogar ein wenig nach Gefängnis aussehen. Aber Freizeit und Ausgang gab es reichlich, nur keinen Ort, an den es sich zu gehen gelohnt hätte in einer Entfernung von weniger als 50 Kilometern.
Trotzdem war es unter den Schülern – durch die Bank Kinder reicher Eltern, die von verschiedenen Schulen geflogen waren wegen „unziemlichem“ oder aufsässigem Verhalten – verbreitet, vom Ausreißen zu träumen. Vom Fliehen aus diesen miefigen Klassenzimmern und vor dem streng durchgeführten Kurrikulum, das auch Benimmtraining und Reinlichkeitslehre enthielt.
Auch wenn Louisa bereits nach wenigen Wochen Freundinnen gefunden hatte und ihr das Lernen hier leichter fiel, weil man sie für voll nahm und ihr Selbstständigkeit abverlangte – etwas, das ihr bei ihren Eltern immer gefehlt hatte, die sie nur herumkommandierten, aber nie etwas wirklich alleinverantwortlich tun ließen – gefielen ihr die Rebellen. Da gab es Mark, einen der Anführer von den zahlreichen Gangs, wie sie sich nannten, ein attraktiver, auffallend selbstbewusster Junge, der Nachts geheime Treffen einberief und dem man nicht widersprechen konnte. Dort wurde von Ausbruchsvarianten geflüstert und wie man sich am Feind Nummer Eins – der Direktorin – rächen könnte. Es gefiel ihr, vom Abhauen zu reden, davon, dass sie alle weit weg von hier ein altes Bauernhaus besetzen und Tiere halten würden, irgendwo, wo sie niemandem Rechenschaft schuldig wären und wo jeder eine vollwertige Stimme bei allen Entscheidungen hätte.
Es kam, wie es kommen musste. Eines Tages war es soweit, dass die wochenlang ausgeheckten Pläne in die Realität umgesetzt werden sollten. Leider überschnitten diese sich mit dem Abgabetermin einer wichtigen Arbeit für Literatur und Louisa wollte diese unbedingt trotz ihrer Flucht mit einer Gruppe der coolsten Mitschüler überhaupt – unter anderem Mark – vorher fertig stellen. Ihr Rucksack war gepackt, und sie verabschiedete sich mit unter ihrer Matratze versteckten Briefen von allen, die sie hier lieb gewonnen hatte, sowie von ihren Eltern und den Lehrern. Doch bevor sie alle zu einem Ausflug mit den Rädern aufbrechen sollten, brachte sie noch schnell ihre Mappe zu Herrn Großpfennig.
Als sie sie ihm auf den Schreibtisch legte, sah er zu ihr hoch, und sie wusste, er spürte, dass etwas los war. Er hatte Empfangsantennen für so was, er durchschaute sie einfach, immer.
„Danke, Louisa. Das ist früh, ich hatte die Arbeit nicht vor morgen erwartet. Darf ich dich noch etwas fragen, bevor du gehst?’“
„Ja, ja, klar, was auch immer. Ich hab jetzt nicht so wahnsinnig viel Zeit, aber okay… Was wollen Sie wissen?“
„Erinnerst du dich daran, wie wir letztens im Unterricht von Pitcher gesprochen haben? Und von seinem Vergleich vom Menschen mit Computern?“
„Äh, klar, das war doch erst letzte Woche. Fand ich auch sehr interessant, obwohl ich gar nicht so viel Ahnung von Festplatten und so habe.“
„Gut. Brauchst du auch nicht. Ich finde, seine Beschreibung sehr einleuchtend. Die Platinen werden bestückt mit allem, was ein Rechner braucht. Die Technik ist jetzt aber unwichtig – Pitcher sagte, es gibt unterschiedliche Charaktere, die wie Rechner verschieden bestückt sind – vom Zusammensetzen – also von Geburt an. Manche haben sehr leistungsfähige Module für Gerechtigkeit, andere fürs Klavierspielen – er sagt, jedes Talent eines Menschen, jeden ausgeprägten Charakterzug kann man mit so einem Modul vergleichen.“
„Ja, und? Worauf wollen Sie hinaus? Wissen Sie, ich hab keine Zeit für ein längeres Gespräch – ich hab noch was vor.“
„Nun, bei dir hatte ich von Anfang an den Eindruck, dass du ein besonderer Mensch bist. Du hast viele Talente, die in dir schlummern und nur darauf warten, entdeckt und gefördert zu werden.“
„Wirklich? Wow, das ist... sehr nett von Ihnen.“
„Ich sage das nicht, weil ich nett bin. Es ist mir völlig egal, ob du mich für ein Arschloch hältst, ich will mich nicht einschmeicheln. Ich will, dass du mich verstehst.“
„Oh!“
„Du bist intelligent. Und doch machst du Fehler. Du hast sozusagen Module, die es dir ermöglichen würden, große Dinge zu tun. Aber die Verbindungen sind noch zu schwach, oder die Energiezufuhr unzureichend. Der richtige Input fehlt. Den könntest du hier bekommen. Aber du willst lieber abhauen und mit deinen weniger intelligenten Freunden irgendwelchen Unsinn bauen.“
„Was? Woher wissen... ich meine, wie kommen Sie denn darauf?“
„Egal, woher ich das weiß. Ich sehe es dir an. Ich bekomme so manches mit hier. Jedenfalls – du kannst tun und lassen, was du für richtig hältst. Aber sei versichert: es wäre ein Fehler, jetzt einfach abzuhauen, du fängst gerade erst an, hier her zu passen und wirst so viel lernen. Dir fehlt aber anscheinend etwas, das ich mal das Optimistenmodul nennen möchte. Du glaubst nicht an dich selbst. Ich rate dir: fang damit an. Entscheide für dich selbst. Lass nicht andere über dich verfügen. Und trau dir etwas mehr zu. Jetzt kannst du gehen.“
„Äh.“
Louisa wusste nicht, was sie sagen sollte. Herr Großpfennig erwartete aber auch gar keine Antwort, er las einfach weiter und sah sie nicht mehr an, als sie aus seinem Büro heraus und wieder in ihren Schlafsaal ging.
Dort saß sie lange auf ihrem Bett, betrachtete den Rucksack, die Abschiedsbriefe und ihr Leben.
Nach einer Weile, als die anderen bestimmt schon weit gekommen waren, zog sie sich aus, legte sich ins Bett und schlief ruhig ein mit dem Gedanken, sich selbst nie wieder zu enttäuschen sei viel wichtiger als irgendeinen anderen Menschen, egal, wie klug oder wie überzeugend er auch sein mochte.