1000 Wege, ins Gras zu beißen
Todesart #9: Ausgebüxt!
WARNUNG: Diese Serie schildert schockierende Szenen von Todesfällen, die nicht für alle zarten Seelchen geeignet sind. Die Namen der Toten wurden geändert. Spielen Sie nichts aus diesen Geschichten nach! ES WÄRE IHR SICHERER TOD!
Der menschliche Körper ist erstaunlich widerstandsfähig; aber beileibe nicht unzerstörbar. Tagtäglich kämpfen wir gegen Bakterien, Gifte, Verletzungen, Krankheiten, Katastrophen und Magersucht. Dass wir all das überleben, ist ein Wunder. Denn jeder Tag bietet Tausend Wege, ins Gras zu beißen.
24.12.1998, Lingen/Ems, JVA II, Kaiserstrasse
Die Mauern sind dick. Zwei Meter oder mehr. Zwölf Meter hoch. Obendrauf noch Stacheldraht. Die Justizvollzugsanstalt lag mitten in der Stadt. Am Eingang die Kaiserstrasse. Viel befahren. Eine Doppelschleuse im Eingang, gesäumt von Stacheldraht. Ein Wachhabender hinter Panzerglas. Zwei weitere Wärter, schwer bewaffnet mit einer 9mm Automatik und einer Heckler&Koch Maschinenpistole. Harte Jungs. Ihrer Aufmerksamkeit entging wirklich nicht viel. Wer vom Haftrichter hierher geschickt wurde, hatte die Arschkarte gezogen. Die Schengener Abkommen, die Versailleser Verträge oder die Genfer Konventionen galten hier einen Scheissdreck. Hier, inmitten dieses verschlafenen Drecksnestes galt nur das Recht der Faust. Die Bestimmer waren nicht die Wärter oder die Richter. Das Sagen hatte hier die arische Bruderschaft, die Pornokönige oder die Geister. Manchmal auch die Russen, die sich „Speznas“ nannten, auch wenn sie mit der Elite-Einheit der Sowjets nicht das Geringste zu tun hatten.
Mitten in diese Scheiße lebte Ralf Seiffert. Ein kleiner, krummer Gelegenheitskrimineller. Er lebte davon, Spielcasinos nachts zu besuchen. Er räumte mit seiner Brechstange die Billard-Tische leer, die einarmigen Banditen und die Zahlschlösser der Toilette. Damals, 1998, war die Alarmtechnik noch nicht so weit wie heute. Ralf hatte einen genialen Trick drauf. Ralf brach nicht in den Saal ein. Ralf verschaffte sich Zugang zum Keller. Er schloss die Lampe kurz, suchte den Sicherungskasten und sah nach, welche Sicherung rausgeflogen war. Dann legte er den FI- Schalter um. Danach hatte auch die Alarmanlage keinen Saft mehr.
Das ging sehr, sehr lange gut. Das Ganze ging so weit, dass Ralf tagsüber schlief und nur nachts unterwegs war. Seiner Epidermis war das nicht zuträglich, seinem Portemonnaie schon. Aber gut ging es nicht lange. Denn Ralfs Methode machte Schule und er kam nicht mit. Irgendwann übernachtete der Automatenaufsteller Peter Bergemann in einem der bereits mehrfach geknackten Spielhöllen. Er fasste Ralf in Flagranti. Und Ralf, der kleine Dicke mit der Colaflaschen- Figur, konnte alles, aber keine langen Distanzen laufen. Nicht einmal mit 2 Kilo Aspirin im Blut. Und so kam es, dass Ralf Seiffert, geborener Loser und Vollidiot vor dem Herrn, zunächst in Groß-Hesepe einsaß. Dann, nach einem überaus dämlichen Fluchtversuch in der verschärften Abteilung. Nachdem er in der Wäscherei eine Geisel, einen total unbedarften LKW-Fahrer von Wittrock&Uhlenwinkel, der lediglich Waschmittel lieferte, nahm, überstellte man ihn zu den Härtefällen nach Lingen. Und Ralf fackelte nicht lange. Er lernte Hasan Akdag kennen, einen 21jährigen Türken. Die anderen nannten ihn den „Kannibalen“, weil er einmal einem Mithäftling den Finger abgebissen und herunter geschluckt hatte.
Über Wochen flüsterte er Hasan Dinge ein. Seine Worte tropften wie ätzende Säure in den Kopf des Türken, der alsbald dem Wahnsinn verfiel und Ralf für den Inbegriff der Wahrheit hielt. Und dann, gegen Ende, kam ein wortreiches Konzentrat an Informationen. Hasan war wie in Trance.
Als sich gegen Morgen die elektrisch verriegelten Zellentüren öffneten, schoss Hasan wie ein Derwisch aus der Zelle. Er schlug den ersten Wärter nieder, schnappte sich den Schlüssel und Feuerzeug und war innerhalb kürzester Zeit im Lager. Dort standen Literflaschen mit Petroleum für die Notlampen und Buffet- Brenner. Schnell war Hasan auf dem Dach der JVA, hatte sich mit der brennbaren Flüssigkeit übergossen und spielte mit dem Feuerzeug.
Das war auch der Zeitpunkt, an dem die Presse Wind bekam. Immerhin lag die JVA mitten in der Stadt. Und auf allen umliegenden Straßen und Häusern sammelten sich die Vollidioten von Gaffern, die auf nichts anderes warteten, als darauf, dass sich ein verzweifelter, manipulierter Mann selbst entzündete.
Auch die Wärter waren versammelt und hatten samt und sonders die Köpfe im Nacken. Das war Ralfs Chance. Er schlich sich zum Anstaltswagen, band sich mit den zerrissenen Bettlaken unter den Gefängnisbus und wartete einfach ab.
Die Wärter waren beschäftigt und ließen den Wagen durch. Ein großer Fehler. Aber das war ja der Plan. Die Ablenkung musste nur effektiv genug sein. Als der Bus in die Schleuse fuhr, zündete sich Hasan selbst an. Und verhalf Ralf so zur Freiheit.
Der Bus verließ Lingen in Richtung Groß-Hesepe, woher Ralf eigentlich gekommen war. Es war schwer, aber Ralf biss die Zähne zusammen bis er an der Ampel war, die von der B70 zur JVA führte. Er löste die Laken, glitt geschmeidig unter dem Bus hervor und ging, als ob es das Normalste der Welt war, auf dem Bürgersteig Richtung Büren. Nicht zu schnell, nicht zu langsam. Vollkommen unauffällig.
Ralf passierte die Stadtgrenze und wollte gerade die Ems überqueren, als er Polizeisirenen hörte. Sie hatten es also bemerkt. Ralf rannte. Er rannte über die Ems in Richtung Haren. Lange hielt er sich im Schatten des Waldes, besonders, als er von fern die flappenden Geräusche eines Hubschraubers hörte. Kurz vor Meppen, an der Erprobungsstelle der Bundeswehr, bedeutete das nicht viel, aber er wollte lieber vorsichtig sein.
Als der Morgen graute, fand er sich wiederum am Wasser wieder. Am Dortmund-Ems-Kanal bei Haren. Kurz vor dem Industrie-Gebiet.
Ralf trat aus dem Schatten des Waldes. Sah sich lauernd um. Diese stille Ruhe, die die kälteste Stunde des Tages markierte, beunruhigte ihn. Ralf mochte diese Stunde nicht, es war zu still.
Und doch war das sein Vorteil, denn er hörte das Auto lange, bevor er es sehen konnte.
Ralf schwang sich elegant über die Brüstung der Brücke. Fiel mehr, als er lief, die Böschung hinunter und sah… ein Abflussrohr! So groß, dass er geduckt hineinlaufen konnte.
Dann hörte Ralf, wie der Streifenwagen quietschend zu Stillstand kam. Er lief geduckt weiter und weiter in das Abflussrohr. Bald verengte sich das Rohr und Ralf musste auf allen Vieren weiterkriechen. Aber allmählich hatte sich Panik seiner bemächtigt. Er wollte auf gar keinen Fall zurück. Nie wieder in die Dusche des Gefängnisses!
Wieder verengte sich das Rohr. Ralf konnte nur noch kriechen, aber das war ihm egal. Irgendwo musste das Rohr ja münden oder nicht? Dort war die Freiheit!
Dann kam eine Art Bottleneck. Ralf kroch mit Schwung hinein und… blieb stecken. Zwischen der letzten Rippe und dem Hüftknochen blieb Ralf Seiffert in dem illegalen Abflussrohr der Firma Hagedorn stecken.
Aus diesem Rohr entsorgte die Chemie-Firma Nächtens ihre Abfälle. Da es sehr schäumte, wenn sie die Abfälle direkt entsorgten, wurde das Rohr phasenweise in Richtung Fluss dicker. Dadurch verlangsamte sich die Fließgeschwindigkeit und sowohl Schaum als auch Druck ließen nach. Am Ende liefen die giftigen Abfälle wie ein kleines Rinnsal in den Fluss und niemand bemerkte auch nur irgendetwas.
Bis auf Ralf, der steckte fest. Vorwärts kam er nicht, weil das Rohr zu eng war und zurück kam er nicht, weil die Rippen sich bei einer Vorwärtsbewegung zwar dehnen konnten, aber rückwärts nicht.
Ralf wurde nervös. Er rief um Hilfe. Er schrie. Er schrie, bis er heiser wurde. Er schrie in verzweifelter Panik in die absolute Dunkelheit des Abwasser- Rohres. Ralf Seiffert wurde wahnsinnig. Laut der Autopsie musste er wohl knapp 30 Stunden ausgeharrt haben, bis die Ratten kamen.
Und die wollten nur raus an den Fluss. Und dort steckte der fette Happen Ralf und schrie sich die Lunge aus dem Leib.
Die erste Ratte, die sich traute, biss ihm in die Nase. Ralf konnte sich nicht wehren. Die nächste biss ihn in die Lippe. Dann die Zweite und die dritte Ratte. Schlussendlich griff ihn eine Ratte an, indem sie sein linkes Auge ins Visier nahm. Es dauerte nicht lange und Ralf verlor das Bewusstsein, bevor sich die Ratte einen Weg in seine Hirnschale fraß.
Tragisch war, dass Ralf den meisten Teil der Angriffe bei vollem Bewusstsein erlebt haben musste. Das Konzil der hier lebenden Nager wollte nur ins Freie. Dazu mussten sie quasi durch Ralf hindurch.
Und erst, nachdem die Firma Hagedorn vergeblich versucht hatte, nach fast sechs Nächten ihre Scheiße zu entsorgen, schickten sie einen Rohr- Roboter, genannt Molch, um nachzusehen.
Ralf suchte nach Auswegen. Dabei wurde er selbst zum Ausweg…
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